Wirtshaussterben : Letzte Runde
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An Silvester war Schluss: Seit vier Monaten stehen die Stühle im Gastraum Linde in Gotthards (hessische Rhön) auf den Tischen. Bild: Rainer Wohlfahrt
Das Wirtshaus war einst das Zentrum des Dorflebens. Jetzt geben sogar die einfallsreichen Wirte auf. Ein Nachruf.
Am meisten Spaß machte das Geschäft, sagt Rosemarie Juli, bevor es überhaupt richtig anfing. Im Sommer 1970 bauten sie und ihr zukünftiger Ehemann Theo den Gasthof „Zur Linde“ in Gotthards um, einem Dorf in der hessischen Rhön. Sie waren Anfang zwanzig damals und schon zusammen zur Grundschule gegangen, den Gasthof übernahmen sie von seinen Eltern.
Das alte geschindelte Haus rissen sie ab, die Bank finanzierte den Neubau, es ging schnell: Am 6. November wurde die Neueröffnung gefeiert, am 28. November die Hochzeit der Wirtsleute. Während der Bauarbeiten diente das Wohnzimmer des benachbarten Bauernhauses als Gaststube. Es war eng und in der Erinnerung immer voll dort, der Zigarettenrauch hing in dicken Schwaden unter der Decke. Rosemarie Juli sagt: „Das war die tollste Kneipe, die wir je hatten.“
Seit vier Monaten stehen in der „Linde“ nun die Stühle auf den Tischen. Das letzte Bier hat Theo Juli in der Silvesternacht gezapft, es gab Lachshäppchen für die Stammgäste, danach war Schluss. Julis Großvater bekam 1907 die Schankerlaubnis, eine Kopie des Dokuments hat der Enkel säuberlich in einem Ringbuch abgeheftet, damals herrschte in Deutschland noch ein Kaiser. Seitdem war die „Linde“ in Familienbesitz.
Ein Verlust an Lebensqualität und Zusammenhalt
So eine Tradition verliert ihre Kraft nicht schon nach einem Vierteljahr. Der Gasthof steht in der Mitte des 370-Einwohner-Dorfs, gegenüber die Kirche, das Backhaus und die Feuerwehr. Manchmal, wenn es hier noch etwas zu tun gibt für die früheren Wirte und sie deshalb die Rollläden hochziehen, kommen Leute herein und fragen, ob sie jetzt doch weitermachen wollten. „Na klar, am Wochenende machen wir wieder auf“, sagt Rosemarie Juli dann im Scherz.
Wie in Gotthards, eine halbe Stunde Autofahrt von Fulda entfernt, ist es überall in Deutschland: Auf dem Land schließen die Wirtshäuser, ob Dorfkrug im Norden, Eckkneipe im Westen oder Biergarten im Süden - und erst recht die Gaststätten im Osten, wo der Schwund nach der Wiedervereinigung besonders rasant eingesetzt hat. Von den mehr als 70.000 Schankwirtschaften, die das Statistische Bundesamt noch im Jahr 1994 verzeichnete, gibt es heute nicht einmal mehr die Hälfte. Das Wirtshaussterben ist kein neues Phänomen, es hat schleichend schon vor Jahrzehnten begonnen. Doch der Verlust an Lebensqualität und Zusammenhalt, den es für viele Menschen auf dem Land bedeutet, hat nun eine kritische Größe erreicht.
Sonst hätten sich zuletzt in manchen wirtshauslos gewordenen Gemeinden nicht die Bewohner zusammengeschlossen, um in Eigenregie und mit viel ehrenamtlichen Engagement eine Kneipe zu betreiben. Sonst hätte der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband in Hessen, wo bis 2020 noch einmal mit einem Rückgang um 40 Prozent gerechnet wird, nicht im vergangenen Jahr seine Kampagne „Rathaus trifft Gasthaus“ angekurbelt, um die Kommunalpolitik auf das Problem aufmerksam zu machen.
Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort
Sonst würde der Kabarettist und bekennende Wirtshausgänger Gerhard Polt nicht über das Verschwinden der Originale aus der Öffentlichkeit klagen, das nach seiner Meinung damit zusammenhängt, dass ihr natürliches Biotop an Stammtisch und Theke nicht mehr existiert. Sonst hätten die Kulturgeographen von der Katholischen Universität im bayerischen Eichstätt ihrer vor zwei Jahren veröffentlichten ausführlichen Studie zum Thema nicht den düsteren Satz vorangestellt: „Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort.“