Die Krise trifft die Ärmsten : Auf Corona folgt der Hunger
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Eine Gruppe von Hindus verteilt Essen in Hyderabad Bild: AFP
Dutzende Millionen Arme können sich aufgrund der Ausgangssperren nicht mehr ernähren. Die Vereinten Nationen fürchten eine Hungerwelle „biblischen Ausmaßes“.
Sunil Ravana und sein Bruder können überleben. „Ein Sack Reis reicht für uns beide für zwei Wochen“, sagt der 32-jährige. Er lebt im Slum Dharavi in Indiens Wirtschaftsmetropole Bombay (Mumbai) von seinen kargen Ersparnissen. Aufgrund der Ausgangssperre zum Schutz vor Corona kann er nicht arbeiten – so wie Millionen anderer Arme in Indien, in Pakistan oder Bangladesch. In Indonesien fürchtet die Regierung, 70 Millionen Tagelöhner säßen nun ohne Einkommen und damit auch ohne Nahrung in ihren Hütten. Nachdem ein Mann in seinem Dorf Reis gestohlen hatte, berichtete die Polizei, er habe seit Tagen nichts mehr zu essen gehabt.
Hunger droht immer mehr zur nächsten Herausforderung der weltweiten Corona-Krise zu werden. Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen warnt vor einer Hungersnot „biblischen Ausmaßes“ in zahlreichen Ländern Südasiens und Afrikas. Im vergangenen Jahr, so die Wissenschaftler, litten 135 Millionen Menschen in 55 Ländern schon unter Hunger, vor allem in Afrika. Corona aber mache nun alles viel schlimmer: „Die Länder könnten vor der bedrückenden Wahl stehen, Leben oder Lebensgrundlagen zu erhalten. Im schlimmsten Fall führte das dazu, Menschen vor Corona zu schützen, nur damit sie dann verhungern.“
Insbesondere warnen die Analysten vor heraufziehenden Krisen in Inselstaaten und in Öl-exportierenden Ländern: „Sie sind meist Nettoimporteure von Lebensmitteln und ihre Menschen hängen vom Tourismus und den Überweisungen ihrer Gastarbeiter im Ausland ab.“ Die Gastarbeiter – Inder in Dubai, Bauarbeiter in Singapur oder Haushaltshilfen in Hongkong – aber verlieren gerade ihre Stellen. „Ihre Überweisungen helfen rund einer Milliarde Menschen auf der Welt. Sie unterstützen 800 Millionen Haushalte in Entwicklungsländern“, warnt das Weltwirtschaftsforum vor einem Wegschmelzen der Einkommen ganzer Familien in Asien und Afrika.
Ökonomen skizzieren ein bitteres Szenario
David Beasley, der Chef des WFP, bezeichnet die Krise als „die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg“. In der Präsentation vor dem Sicherheitsrat der UN entschuldigte er sich für seine „Offenheit“: „In einigen Monaten könnten wir mehrere Hungersnöte biblischen Ausmaßes gegenüberstehen. Die Wahrheit ist: Uns bleibt kaum noch Zeit.“ Schon in den vergangenen zwei Jahren sind aufgrund der Heuschreckenplage, der Dürren durch den Klimawandel und der Schweinepest die Lebensmittelpreise in Südasien um 16 Prozent, in China um 18 Prozent gestiegen – da Arme einen wesentlich größeren Teil ihres Einkommens für Nahrung ausgeben müssen, werden sie von solchen Preissteigerungen deutlich härter getroffen als die Mittelschicht oder die Wohlhabenden.
Die Verwerfungen treffen die verletzlichen Länder. Beispiel Pakistan: Die Hälfte der Frauen und Kinder leidet unter Anämie; rund 4 Millionen Menschen litten schon vor Corona unter Versorgungsproblemen mit Lebensmitteln, mehr als eine Million hungerte. Der Chefvolkswirt des WFP lässt keinen Zweifel an der Verschärfung der Lage: „Wie ein Hammer trifft das Millionen, die sich nur dann ernähren können, wenn sie arbeiten dürfen“, sagte Arif Husain über die Corona-Krise und die damit verbundenen Ausgehverbote. „Diese Verbote und die Rezession haben ihre Ersparnisse schon schmelzen lassen. Es braucht nur noch einen einzigen Schock, um sie über die Klippe zu stoßen.“
Die WFP-Ökonomen skizzieren ein bitteres Szenario: „Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Krankheiten werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Arbeit im Agrarsektor verringern, was zu steigenden Lebensmittelpreisen führen wird. Protektionismus wie Zölle oder ein Ausfuhr-Bann könnten die Nahrungspreise auch treiben, während die Krisenländer, die an stark an Lebensmittel-Importen hängen, unter steigenden Preisen leiden werden, wenn ihre Währungen weiter abwerten. Wenn dann große Importländer auf Panikkäufe verfallen, werden die Preise für Grundnahrungsmittel noch weiter steigen.“
„Es reicht kaum für alle“
Was die Ökonomen in ihren Berichten in Worte fassen, ist vom Sudan über den Jemen bis nach Haiti schon zu spüren. Doch auch eigentlich aufstrebende Länder wie Indien oder Bangladesch treiben in eine Krise. Das Trio aus dem Akademiker und früheren indischen Notenbankchef Raghuram Rajan und den indischen Nobelpreisträgern Amartya Sen und Abhijit Banerjee appellierte gerade an die Regierung in Neu Delhi, die gefüllten Nahrungsmittelspeicher zu öffnen und mehr für die Ärmsten der Armen zu tun: Die größte Sorge sei, „dass eine große Zahl Menschen nun durch die Kombination aus Verlust ihres Arbeitsplatzes und der Unterbrechung der normalen Versorgung zurück in extreme Armut oder sogar Hunger fällt. Hungernde haben nichts mehr zu verlieren“.
Die Wissenschaftler Ahmed Mushfiq Mobarak und Zachary Barnett-Howell von der Universität Yale schreiben, „das Herunterdrücken der epidemiologischen Kurve um Zeit zu kaufen, bis eine Impfung möglich ist, könnte für ärmere Länder kontraproduktiv sein, wenn dadurch andere Todesursachen zunehmen“ – wie Hunger, Unterernährung oder Krankheiten.
Die indische Haushaltshilfe Sunita Devi weiß, wovor die Akademiker warnen. Journalisten in Delhi erzählt sie von ihren Leiden: Die Mutter von vier Kindern hat ihre schmalen Ersparnisse schon zu Beginn der sechs Wochen dauernden Ausgangssperre verzehrt. Ihre vier Kinder versucht sie mit der Hilfe aus den Lebensmittelspeichern der Regierung durchzubringen, die in öffentlichen Schulen ausgegeben wird. „Wir bekommen kleine Rationen, die ich unter meinen vier Kinder aufteile. Es reicht kaum für alle.“
Es entsteht ein Teufelskreis
Dabei ist es noch nicht lange her, dass der Chef der staatlichen Nahrungsmittelfürsorge Food Corporation India (FCI) erklärte, die Speicher platzten fast dank der guten Ernte. „Ende April werden wir mehr als 100 Millionen Tonnen in den Lagern über ganz Indien haben, wobei nur 50 bis 60 Millionen Tonnen für die verschiedenen Fürsorgeprogramme für die Armen gebraucht werden“, sagte D.V. Prasad. „Es gibt absolut keinen Anlass zur Sorge mit Blick auf Reis oder Weizen.“ Der Studentenführer Umar Khalid hält dagegen: „Wir haben Speicher mit mehr als 75 Millionen Tonnen Getreide. Trotzdem riecht es auf all unseren Straßen nach Hunger. Wir können die Schlacht gegen Corona nicht gewinnen, wenn wir nicht auch gegen den Hunger kämpfen.“
Zumal ein Teufelskreis entsteht: Die Armen verlassen ihre Unterkünfte, um in die Dörfer zurückzukehren. Oder um sich bei den Ausgaben mit einer kargen Mahlzeit zu versorgen – und drohen so, das Virus noch weiter zu verbreiten. Die indische Regierung will jeden Bedürftigen mit 5 Kilo Reis oder Weizen und einem Kilo Linsen für die nächsten drei Monate versorgen. In Neu Delhi verspricht die Stadtregierung, Getreide an gut 7 Millionen der rund 20 Millionen Einwohner auszugeben. In 1600 öffentlichen Gebäuden gäbe es zudem Armenspeisungen für 1,2 Millionen Einwohner.
4 Millionen Tagelöhner in Delhi
Analysten und Aktivisten aber warnen, das reiche bei weitem nicht, denn viele der fast 1,4 Milliarden Inder seien nicht für das öffentliche Verteilungssystem gelistet, nun aber gleichwohl bedürftig. Denn es basiere auf dem Zensus von 2011; in den vergangenen neun Jahren aber seien Hunderttausende Unterversorgte hinzugekommen. „Fast 70 Prozent der Einwohner Delhis, rund 13 Millionen, leben in Slums. Nur gut 7 Millionen aber sind als Bedürftige mit der Berechtigung für Lebensmittelrationen registriert“, warnt Amrita Johri von der „Recht auf Essen”-Kampagne.
In der Hauptstadt allein vegetieren mehr als 4 Millionen Tagelöhner. Viele von ihnen haben ihre Nahrungsmittelkarten aber bei ihren – nun unerreichbaren – Familien in ihren Dörfern zurückgelassen. Die Stadtregierung hat deshalb „elektronische Nahrungsmittelkarten“ ausgegeben – um sie zu nutzen, braucht es aber ein Mobiltelefon. 1,5 Millionen Armen haben sich zumindest registrieren lassen. Ausgegeben aber wurden nur 300.000 Rationen, berichten Sozialarbeiter.