
Tarifabschlüsse in der Krise : Lohnpolitik diesseits der Modellwelt
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Streikende Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe am Standort in Berlin-Mitte Bild: imago images / Müller-Stauffenbe
Droht eine Lohn-Preis-Spirale? Geraten die Tarifrunden wegen hoher Inflationsraten außer Kontrolle? Bisher nicht. Das größte Risiko ist allerdings der öffentliche Dienst.
Zwei prominente Produkte ökonomischer Modellbildung kollidieren zurzeit auf interessante Weise mit den Erfahrungswelten der Gewerkschaften. Da ist zum einen die Warnung vor einer „Lohn-Preis-Spirale“ – einer überzogenen Lohnpolitik in Reaktion auf hohe Inflationsraten, die den Preisauftrieb womöglich noch verstärkt. Damit fremdeln Gewerkschaften schon deshalb, weil sie sich grundsätzlich nicht gerne von Dritten erklären lassen, was der Rahmen angemessener Lohnforderungen sei.
Zum anderen sind da die aktuellen Simulationsstudien, denen zufolge ein Boykott russischer Gaslieferungen für die Wirtschaft gut verkraftbar sei und das Bruttoinlandsprodukt allenfalls zeitweilig einige Prozentpunkte nach unten drücken würde. Diese Modellwelt lehnen die Industriegewerkschaften sogar noch deutlicher ab jene der Lohn-Preis-Spirale. Sie warnen davor, die Verflechtung industrieller Wertschöpfungsketten und damit die Breitenwirkung möglicher Produktionsausfälle zu unterschätzen.
Einige Zweifel sind in der Tat angebracht, ob solche Studien qualitative Unterschiede zwischen einem Corona-Lockdown im Gastgewerbe und einem Stillstand der Chemie- und Stahlindustrie angemessen abbilden. Im Kontext der Lohnpolitik ist die so begründete Kritik an „leichtfertigen“ Boykottdebatten umso interessanter. Denn indirekt engen die Industriegewerkschaften damit ihren argumentativen Spielraum ein: Wer die ohnehin mit harten Transformationsaufgaben ringende Industrie als so verletzlich einstuft, kann sie wohl kaum als Nächstes mit Arbeitskämpfen in die Knie zwingen wollen.
„Entankerung“ von Inflationserwartungen noch nicht in Gang
Dass die Debatte über Lohn-Preis-Spiralen zumindest bisher kaum zur tarifpolitischen Realität passt, zeigt aber auch die aktuelle Tarifeinigung für die Chemieindustrie. Ihre 580 000 Beschäftigten erhalten zwar als Teuerungsausgleich ansehnliche 1400 Euro als Einmalbetrag. Die eigentlich fälligen Gespräche über höhere Monatslöhne vertagte man aber erst einmal auf Herbst – mit aktiver Zustimmung der Gewerkschaft IG BCE.
Tarifpolitik ist immer ein komplexer Prozess des Interessenausgleichs, auch innerhalb der Organisationen. Wer darin nur angewandte Mathematik sieht, verkennt ihre Integrationsleistung. Der Wert von Tarifautonomie bemisst sich nicht nur danach, welche Euro- und Prozentzahlen sie liefert. In dem Maße, wie sie ihnen Legitimität und Akzeptanz verleiht, produziert sie gesellschaftliche Stabilität. Die IG BCE und ihre Mitglieder waren diesmal angesichts einer starken Branchenkonjunktur mit hohen Erwartungen gestartet, dann erst wurden sie vom Ukraine-Krieg, aber auch der verschärften Inflation überrascht. Dass Rücksicht auf wirtschaftliche Risiken für die Betriebe den Wunsch nach höheren Lohnprozenten dann überwog, war zumindest keine Selbstverständlichkeit.
Auch der neue Tarifabschluss von Verdi im privaten Bankgewerbe – drei Prozent in diesem Jahr, zwei Prozent im kommenden – spricht nicht dafür, dass die von Ökonomen befürchtete „Entankerung“ von Inflationserwartungen schon im Gange wäre. Aber natürlich kann es durch lang anhaltenden Preisauftrieb noch dazu kommen. Die Erfahrungen aus den 1970er-Jahren legen nahe, dass es etwas dauert, bis sich die Erfahrung schrumpfender Kaufkraft lohnpolitisch materialisiert.
Die Verantwortung liegt beim Staat
Offen ist indes, ob die Streikmacht der Gewerkschaften im Falle ernster Konfrontationen noch vergleichbar wäre: Ihre Mitgliederzahl hat stark abgenommen, die Breitenwirkung ihrer Tarifverträge auch. Die Fragilität industrieller Wertschöpfungsketten, die ihnen in der Sanktionsdebatte große Sorgen macht, hat aber im tarifpolischen Ernstfall eine weitere Eigenschaft: Nicht nur Gasmangel kann große Hebelwirkung haben, sondern auch schon ein begrenzter Streik.
Vor dem Einsatz dieser Hebel in einer Krise müsste bei IG Metall und Co. aber ein heftiger Stimmungsumschwung liegen. Anders ist es jedoch im öffentlichen Dienst – und das nicht nur, weil die Beschäftigten dort kaum Furcht um Arbeitsplätze kennen. Schon vor den Inflationsschüben nährte Verdi die Vorstellung, dass die Lohnpolitik dort großen Nachholbedarf habe. Und die SPD punktete mit dem politischen Versprechen, den „Helden des Alltags“ – gemeint sind großenteils Beschäftigte des öffentlichen Sektors – endlich „Respekt“ zu verschaffen.
Das spricht nicht dafür, dass die öffentlichen Arbeitgeber in der Tarifrunde im Herbst mit einem beherzten Tritt auf die Kostenbremse für lohnpolitische Disziplin sorgen wollen. Dies setzt dann womöglich auch die Industriegewerkschaften unter neuen Druck. Ein Großteil der Verantwortung, einem solchen Stimmungsumschwung der Lohnpolitik vorzubeugen, liegt also beim Staat.