Statistik vor der Wahl : So hat Erdogan die Türkei verändert
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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Bild: F.A.Z.
Seit 2002 regiert Recep Tayyip Erdogan die Türkei. Unter ihm wurde das Land wohlhabender und urbaner. Doch wirtschaftlich steht längst nicht alles zum Besten. Die Bilanz des AKP-Politikers in Grafiken.
Selbst Eisschränke können hitzige Debatten auslösen. Während einer Wahlkampfrede in der nordwesttürkischen Provinz Sakarya protzte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich damit, wie stark der Wohlstand unter seiner Partei AKP gewachsen sei. Im Jahr 2002, als die damals neue politische Kraft an die Regierung kam, seien erst 91.000 Autos und 1,1 Millionen Kühlschränke verkauft worden, rechnete der Wahlkämpfer vor.
2017, nach 15 Jahren AKP-Herrschaft, seien es schon 723.000 Autos und 3,1 Millionen Kühlschränke gewesen. „Da bedeutet, dass es keine armen Leute gibt“, lobte Erdogan sich und die Seinen. „Wenn in jedem Haus ein Kühlschrank steht, herrscht ein gewisses Maß an Wohlstand.“
Spott für Erdogan
Im Internet ergoss sich anschließend einiger Spott über den Politiker, wie die Zeitung „Hürriyet“ berichtete. Viele Nutzer hätten darauf hingewiesen, dass es schon seit Jahrzehnten in praktisch jeder Wohnung einen Eisschrank gebe. Muharrem Ince von der wichtigsten Oppositionspartei CHP, Erdogans gefährlichster Rivale im Präsidentenwahlkampf, ätzte: „Haben wir unser Essen in Baumlöchern aufbewahrt, bevor Du kamst, Erdogan?“
Sicher, die Zahlen sind übertrieben und berücksichtigen die starke Zunahme der Bevölkerung nicht, die seit 2002 um fast ein Viertel auf 80 Millionen Einwohner gestiegen ist. Auch ließen sich Hausgeräte vor allem deshalb so gut verkaufen, weil der Staat mit Steuersenkungen und billigen Konsumentenkrediten nachhalf.
Unbestritten aber ist, dass die Türkei unter der AKP enorme Fortschritte in der gesamtwirtschaftlichen und in der individuellen Prosperität gemacht hat. Seit der Finanzkrise 2001 ist die Wirtschaft real um durchschnittlich sechs Prozent im Jahr gewachsen.
Nach Angaben des Weltwährungsfonds IWF rangiert die Türkei heute mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 900 Milliarden Dollar auf Platz 17 in der Welt. Berücksichtigt man die Kaufkraft, erreicht sie mit mehr als zwei Billionen Dollar sogar Rang 13, noch vor Südkorea, Spanien, Saudi-Arabien und Kanada.
Das Pro-Kopf-Einkommen, ausgedrückt als BIP je Einwohner, hat sich auf 11.000 Dollar im Jahr verdreifacht. Bereinigt um die Kaufkraft, ist der Wert mit 27.000 Dollar so hoch wie im Euro-Land Lettland – und höher als in den EU-Mitgliedern Kroatien, Rumänien, Bulgarien.
Die Weltbank lobt vor allem den Ausbau von Straßen, Schulen, Spitälern sowie die Armutsbekämpfung. Die Zahl der Mittellosen habe sich seit 2002 mehr als halbiert, die extreme Armut sei noch stärker zurückgegangen. Bemerkenswert sei zudem, wie schnell sich das Land urbanisiert und für den Außenhandel geöffnet habe. Positiv streichen die Ökonomen auch die rasche Erholung nach der globalen Krise von 2008/2009 heraus sowie die Harmonisierung mit EU-Recht in Vorbereitung auf den erhofften Beitritt.
Die negativen Folgen des Wachstums
Von der Weltbank als „Land mit gehobenem mittleren Einkommen“ geführt, ist die Türkei zu einem bedeutenden Akteur in der Entwicklungshilfe aufgestiegen. Nach Angaben der OECD – der sie ebenso angehört wie der G 20 – nimmt das Land inzwischen Position 12 unter den wichtigsten Geberstaaten ein.
Steht also wirtschaftlich alles zum Besten? Mitnichten. Das zeigen zwei Indikatoren, die unter der AKP zunächst gefallen, zuletzt aber wieder gestiegen sind. Mit knapp elf Prozent ist die Arbeitslosenquote heute etwa genauso hoch wie in der Krise 2002/2003. Auch der Verbraucherpreisanstieg von zwölf Prozent bewegt sich auf einem ähnlich bedenklichen Niveau wie 2003.
Schuld an der Entwicklung ist vielerlei, nicht zuletzt das übertriebene Wachstum. Im ersten Quartal betrug es ebenso wie im gesamten Vorjahr 7,4 Prozent. Das klingt gut, geht aber weit über das hinaus, was die Türkei mit ihrem Produktionspotential normalerweise stemmen kann. Analysten sprechen deshalb von einer „Überhitzung“, angefacht von künstlicher staatlicher Nachfrage und viel zu vielen günstigen Krediten.
Beides ist Folge einer Konjunkturpolitik, mit der die Regierung die Belastungen nach dem Putschversuch vor zwei Jahren überkompensiert und dadurch eine riskante Spirale in Gang gesetzt hat. Denn das rasante Wachstum und das viele Geld im Kreislauf treiben die Preise derart in die Höhe, dass die Inflation das Ziel der Zentralbank um mehr als das Doppelte übersteigt.
Eine unabhängige Notenbank würde dem mit Zinserhöhungen entgegentreten. Die türkischen Währungshüter aber haben sich das lange nicht getraut, da der Übervater Erdogan das Wachstum nicht gefährden wollte und weil er hinter jeder Zinserhöhung spekulative Mächte wittert. Dieses Zögern verstärkte die Misere noch, weil geringe Realzinsen (Zinssatz minus Inflation) zu einem Kapitalabzug führen und den Wert der Landeswährung Lira drücken. Das wiederum verteuert Importwaren und schürt den Preisauftrieb.
Die Türkei befindet sich in einer besonders brisanten Lage, da sie ihr Wachstum nicht über eigenes Sparen finanziert, sondern über ausländisches Kapital. Im Normalfall (über)decken diese Zuflüsse das riesige Leistungsbilanzdefizit, das wiederum eine Folge der Abhängigkeit von den Rohstoffimporten ist.
Wenn aber, wie jüngst, das kurzfristig angelegte Kapital anderswo höhere Renditen zu erwarten hat und das Land verlässt, wird es eng für die Türkei. Weder gibt es genügend langfristige Anlagen aus dem Ausland, wie etwa Direktinvestitionen, noch reichen die türkischen Gold- und Devisenreserven aus, um die Lücke zu füllen.
Der Staat ist heute zwar weniger stark im Ausland verschuldet als in der Krise 2001. Dafür aber sind die Verbindlichkeiten der Banken und Unternehmen viel höher. In Einzelfällen hat der starke Lira-Verfall jetzt schon dazu geführt, dass türkische Schuldner ihren Kapitaldienst (Zins und Tilgung) nicht mehr leisten können. Falls sich die Lage verschärft, drohen Zahlungsausfälle, Pleiten, Massenentlassungen.
In sprichwörtlich letzter Minute hat Erdogan Ende Mai eingelenkt und die Zentralbank ihren Job machen lassen. Seitdem wurden die Zinsen mehrfach erhöht, und das Straucheln der Lira von einem Rekordtief zum nächsten ließ sich zumindest vorübergehend aufhalten.
Gleichwohl notiert die Währung gegenüber Dollar und Euro noch immer um mehr als 15 Prozent unter dem Wert vom Jahresanfang. Daran wird sich erst dann etwas ändern, wenn das Vertrauen der Anleger zurückkehrt. Ob das geschieht, wird sich in und nach den Wahlen vom Sonntag entscheiden.