Chef von Orpea fliegt : Dieser Pflegeheimskandal erschüttert Frankreich
- -Aktualisiert am
Folgt man den Schilderungen des freien Journalisten Castanet, der den Stein ins Rollen gebracht hat, könnten die Klagen tatsächlich von Erfolg beschieden sein. Auf den 400 Seiten seines Buches listet er schwerwiegende Vorfälle in Neuilly auf. Dafür hat er knapp drei Jahre lang recherchiert und mehr als 250 Zeugenaussagen gesammelt, zudem interne Mails und Berichte studiert und neben Angehörigen von Heimbewohnern auch ehemalige Orpea-Führungskräfte hinter sich, darunter eine Anwältin aus der Personalabteilung des Konzerns.
Castanet beruft sich auf Pfleger, denen zufolge die Ausgabe von Lebensmitteln wie Zwieback streng limitiert wurden und das Nachfüllen verboten war, auch wenn die Bewohner darum baten. Begründet worden sei das mit der Ansage der Heimleitung, Kosten zu sparen. Selbige Ansagen habe es für Windeln gegeben: Drei am Tag, mehr nicht, auch wenn die Bewohner krank waren. Andere Zeugen berichten von starkem Uringeruch, weil das Bett von alten und kranken Bewohnern nicht oft genug gewechselt wurde, und von Bewohnern, die stundenlang in ihren Exkrementen lagen. „Sobald ich diese Einheit betrat, sobald sich der Aufzug öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte“, zitiert Castanet eine ehemalige Pflegerin. „Schon vom Eingang her roch es schrecklich nach Urin.“ Auch bei dem Wechseln der Wäsche und der Verabreichung von Medikamenten habe es Rationierungen und Unregelmäßigkeiten gegeben.
Systematisch sei das Pflegen und Waschen zu kurz gekommen, schreibt Castanet. Obwohl die Residenz in Neuilly im gehobenen Segment angesiedelt ist – der günstigste Zimmerpreis ist drei Mal so hoch wie im Durchschnitt aller französischen Heime – seien nur ein bis zwei Pfleger für 14 Bewohner eingeteilt gewesen, nachts sogar nur drei für 125. „Wir mussten uns gleichzeitig um 33 Menschen kümmern, also kümmerten wir uns schlecht um sie“, zitiert der Journalist eine weitere Pflegerin. „Es war unerträglich.“ Auch der Personalabteilung von Orpea macht er schwere Vorwürfe. So seien beispielsweise nur vermeintlich Mitarbeiter fest angestellt und in Wahrheit auf Leihbasis eingestellt worden.
Den Konzern konfrontierte Castanet nach eigenen Angaben mit seinen Recherchen – ohne Erfolg. Der Bitte um Beantwortung einer Liste mit 56 Fragen sei die Geschäftsleitung nicht nachgekommen mit dem Verweis darauf, dass man zu sehr mit der Pandemie beschäftigt sei. Doch damit nicht genug. Wie Castanet im Fernsehen sagte, habe ihm Orpea die Summe von 15 Millionen Euro angeboten, um seine Nachforschungen einzustellen.
Ungemütlich werden dürfte die Angelegenheit auch für Behörden und Politik. Laut dem Journalisten habe die Kontrolle versagt. „Wenn es beispielsweise in einem Pflegeheim des Konzerns zu einer Kontrolle kommt, wird im Voraus Orpea gewarnt“, sagte Castanet. Er belastet vor allem Xavier Bertrand, republikanischer Präsident des Regionalrats der Region Hauts-de-France und Gesundheitsminister sowohl unter Jacques Chirac als auch Nicolas Sarkozy. „Wir hatten den Gesundheitsminister in unserer Tasche“, zitiert Castanet einen ehemaligen ärztlichen Direktor der Unternehmensgruppe. Bertrand selbst bestreitet die Vorwürfe.
Folgen für das Pflegesystem
Für Frankreichs Pflegesystem könnte der Skandal weitreichende Folgen haben. Kritiker der privaten Einrichtungen haben Oberwasser, auch der Aktienkurs von Marktführer Korian war vorige Woche eingebrochen. An der Börse Geld zu verdienen sei kein Vergehen, aber Pflege sei „kein Geschäft wie die anderen“, sagte Frédéric Valletoux, Präsident des französischen Krankenhausverbandes, der Zeitung „Journal du Dimanche“. „Ich bin nicht dafür, den Privatsektor zu ‚töten', aber wir müssen seine Aktivitäten ernsthaft regulieren. Und den Rechtsstatus von Unternehmen hinterfragen, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden und gemeinwohlorientierte Aufgaben erfüllen“, sagte Valletoux.
Auch der Journalist Castanet hat die Frage aufgeworfen, warum ein Unternehmen wie Orpea trotz Gewinn ein bis zwei Millionen Euro an Zuschüssen für jede Einrichtung erhält und von einer „fragwürdigen Verwaltung öffentlicher Gelder“ gesprochen. Sozialistische Abgeordnete forderten, dass Parlamentarier in Pflegeheimen ein spontanes Besuchsrecht haben sollten wie in Gefängnissen. Auch die republikanische Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse sprach sich für schärfere Vorgaben für Betreiber aus. Wo diese nicht befolgt würden, müssten Heime schließen. Zudem müssten jene Betreiber verfolgt werden, „die Profit über ihre Mission stellen und die Menschenwürde untergraben“.