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Transgender und Unternehmerin : „Frau zu sein kostet eine Viertelmillion“

Vivienne Ming hat mehrere Start-ups aufgebaut – erst als Mann, dann als Frau. „Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht“, sagt sie. Bild: Erik Jepsen/UC San Diego Publica

Die Tech-Unternehmerin Vivienne Ming erklärt im Interview, warum Männer leichter an Geld kommen, wieso das schädlich ist und was das mit unserem Gehirn zu tun hat.

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          Frau Ming, viele Start-up-Gründerinnen klagen darüber, dass sie nicht so leicht an Kapital kommen wie die männliche Konkurrenz. Ist das so?

          Ja, es ist so – ganz unabhängig von der Geschäftsidee. Ich weiß, wovon ich spreche. Vor meiner Geschlechtsumwandlung habe ich als Mann Unternehmen gegründet, jetzt tue ich es als Frau. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.

          Tatsächlich?

          Inge Kloepfer
          Freie Autorin in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Als Neurowissenschaftlerin und Daten-Spezialistin glaube ich zwar daran, dass uns Daten über Verhaltensweisen von Menschen deutlich mehr sagen als persönliche Erfahrungen. Gleichwohl kann ich bestätigen, dass ich als Frau grundsätzlich anders behandelt werde als seinerzeit als Mann.

          Inwiefern?

          Als ich beschloss, mein Geschlecht zu ändern und fortan als Frau zu leben, haben alle aufgehört, mir mathematische Fragen zu stellen – meine Studenten, viele Fachleute, Freunde und sogar meine engsten Verwandten. Dabei kannten sie mich, sie wussten, wie ich ausgebildet war. Ich bin immer noch die gleiche Person. Trotzdem hat sich ihr Verhalten über Nacht geändert.

          Wie verhielten sich die Kapitalgeber?

          Als Mann hatte ich weniger Schwierigkeiten, Kapital zu bekommen. Meine erste Unternehmensgründung als Frau verlief dagegen vollkommen anders. Mein Team und ich hatten eine gute Idee und eine Technologie, die kein Investor in Frage stellte. Trotzdem wollte uns zunächst niemand finanzieren. Einer der Investoren, bei dem wir uns vorstellten, tätschelte mir nach unserer Präsentation den Kopf und versicherte mir, ich könne stolz darauf sein, was ich erreicht habe. Nur Kapital würde er mir dafür nicht geben. Können Sie sich vorstellen, dass ein männlicher Risikokapitalgeber einem weißen männlichen Start-up-Gründer den Kopf tätschelt? Frauen und Männer werden nicht gleich behandelt. Dazu gibt es Daten und damit reichlich Evidenz.

          Was sind das für Daten – geklagt wird ja immer gerne?

          Es ist in gewisser Weise verständlich, dass viele die Klagen bislang nicht ernst nahmen. Die meisten Studien basierten auf unzuverlässigen Befragungen. Ich habe mehr als 100.000 Unternehmer und Unternehmerinnen über 10 Jahre hinweg verfolgt, ich habe öffentlich zugängliche Daten gesammelt und auch das Wissen des amerikanischen Zensus-Büros verwertet.

          Allein der weibliche Vorname kostet eine Gründerin 40 Prozent des potentiellen Finanzierungsvolumens. Josephine wird nur 60 Prozent des Risikokapitals bekommen, das Investoren Joseph zur Verfügung stellen – und zwar unabhängig von der Tatsache, dass Josephines Start-up statistisch gesehen die größeren Erfolgschancen hat.

          Das wäre aus Sicht von Investoren eigentlich irrational.

          Richtig. Aber die Investoren sind sich dessen gar nicht bewusst. Das Gros von ihnen trifft ja nicht absichtlich die schlechteren Entscheidungen. Risikokapitalgeber haben nur ein Ziel: möglichst erfolgversprechende Unternehmen zu finanzieren und damit viel Geld zu verdienen. Warum also sollten sie bewusst Frauen benachteiligen?

          Aber sie tun es trotzdem. Aus welchem Grund?

          Menschen sind grundsätzlich voreingenommen und entscheiden nach Neigung. Sie sind schlecht darin, Fähigkeiten von anderen zu bewerten, vor allem dann, wenn diese anders sind als sie selbst. Das zeigen auch andere Studien. Wenn identische Businesspläne den Risikokapitalgebern mal mit weiblichem, mal mit männlichem Vornamen präsentiert werden – was glauben Sie, wie unterschiedlich sie beurteilt werden?

          Männer schneiden besser ab?

          So ist es. Frauen wird oft gesagt: Hör auf zu heulen, verdiene ordentlich Geld für andere, dann bist du deine Probleme los. Das ist herabwürdigend. Ich würde in meinem großen Datensatz gerne danach forschen, ob Frauen, die bereits mehrere Unternehmen erfolgreich gegründet haben, beim zweiten oder spätestens dritten Mal leichter an Kapital kommen – so wie ich jetzt. Ich gehe davon aus, dass sich der Anfangseffekt der schlechteren Bewertung erheblich abschwächt, wenn man schon mal erfolgreich war. Je außergewöhnlicher man ist, desto weniger voreingenommen sind die Investoren. Dann wird man nicht mehr als Frau behandelt, sondern als Spezialfall. Übrigens: Je riskanter die Geschäftsideen und Businesspläne sind, desto mehr verliert die rollenspezifische Voreingenommenheit an Bedeutung.

          Wie genau funktioniert das System der Voreingenommenheit?

          Unser Gehirn ist hochentwickelt, allerdings träge, wenn es entscheiden muss. Die Entscheidungsmodelle basieren auf simplem Zählen. Wenn ein Investor vor allem männliche Ingenieure erlebt hat, wird er bei der Beurteilung von Businessplänen auf diese Erfahrung zurückgreifen und vor allem die der Männer gut beurteilen. Dass es mehr männliche als weibliche Ingenieure gibt, heißt aber nicht, dass die weiblichen schlechter sind. Sie passen einfach nur nicht zu den Entscheidungsmodellen in den Köpfen der Investoren. Dabei zeigen die wissenschaftlichen Daten ganz andere Ergebnisse: Frauen sind vielfach die besseren Ingenieure, die besseren Ärzte, sogar die besseren Hegefondsmanager ...

          ... aber sie setzen sich nicht durch. Was machen sie selbst falsch?

          Sie passen ihr Verhalten an diese Voreingenommenheit an. Frauen müssen zu besseren Schulen gegangen sein, brauchen bessere Abschlüsse, müssen für eine längere Zeit bei bekannteren Unternehmen gearbeitet und mehr Auszeichnungen und Preise bekommen haben, um ein ähnliches Jobangebot zu bekommen wie Männer. Selbst wenn sie es nach ganz oben geschafft haben, müssen sie einen enormen Mehraufwand betreiben, um dort zu reüssieren. Sie müssen härter arbeiten. Gleiches gilt für die Start-up-Szene. Frauen müssen viel mehr vorweisen, um an das gleiche Geld zu kommen. Wenn eine Frau rational entscheidet, wird sie sich fragen, ob das den Aufwand lohnt ...

          ... und sich dann zurückziehen?

          Wenn eine Frau weiß, dass sie für ein Start-Up im Vergleich zu Männern nur 60 Prozent des Kapitals zur Verfügung gestellt bekommt, dann wird sie sich sehr genau überlegen, ob sie lieber gleich bei einer der großen Unternehmensberatungen anheuert und ein garantiertes Einkommen hat. Ihre Entscheidung ist vollkommen rational.

          Ein Bild aus College-Tagen: Vivienne Ming vor ihrer Geschlechtsumwandlung, damals hieß sie noch Evan Smith.
          Ein Bild aus College-Tagen: Vivienne Ming vor ihrer Geschlechtsumwandlung, damals hieß sie noch Evan Smith. : Bild: privat

          Kann man den Mehraufwand für Frauen beziffern?

          Frauen in der amerikanischen Tech-Industrie kostet allein ihr Frau-Sein rund 250.000 Dollar. So viel mehr müssen sie im Vergleich zu Männern für Bildung und andere Nachweise ihrer eigenen Qualifikation ausgeben. Das gilt übrigens auch für andere Minderheiten – Schwarze zum Beispiel. In Hongkong zahlen Frauen in der Technologie-Branche sogar zwischen 800.000 und eine Million Dollar dafür, dass sie anders sind. Bei homosexuellen Männern in England sind es immerhin noch 54.000 Dollar. Ich bezeichne dies als Minderheitensteuer. Es ist eine Steuer, die man einfach nur dafür zahlt, anders zu sein.

          Eine Steuer ist eigentlich etwas anderes.

          Ich nenne es so, damit man die Wirkung dieser Benachteiligung besser begreift. Ökonomen und Politiker setzen auf Steuern, wenn sie das Verhalten von Menschen ändern möchten. Wenn man Frauen davon abhalten möchte, Unternehmerinnen zu werden, dann sollte man sie mit einer Steuer belegen. Und genau das passiert – tagtäglich, seit Jahren. Das Verheerende an dieser Steuer ist: Sie nützt niemandem, sondern sie schadet nur. Es werden keine Brücken davon gebaut und auch keine Schulen.

          Deshalb gibt es keinen weiblichen Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos?

          Es gibt sehr erfolgreiche Gründerinnen, aber mit weniger Geld und deshalb weniger auffälligen Erfolgen. Mark Zuckerberg ist auch unter den Männern eine Ausnahme. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau so etwas erreicht, wenn Frauen von Investoren systematisch unterschätzt werden? Die gleichen Effekte zeigen sich bei schwarzen Entrepreneuren oder bei solchen mit einer körperlichen Behinderung. Es ist teuer, kein weißer, heterosexueller Mann zu sein.

          Auch für die gesamte Volkswirtschaft?

          Aber ja. Gesamtwirtschaftlich ist das unglaublich ineffizient. Wir verpassen Möglichkeiten der Wertschöpfung. Wie viele gute Gründerinnen bekommen keine Chance? Wenn ich meine persönliche Geschichte öffentlich gemacht habe, dann auch deshalb, weil ich mir eine veränderte Dynamik des gesamten Systems wünsche: eine höhere Akzeptanz der Geschäftsideen von Frauen und anderen Minderheiten.

          Man sollte meinen, nie hatten es Frauen leichter als heute, Karriere zu machen oder Unternehmen zu gründen.

          Wie viele Manager und Risikokapitalgeber behaupten von sich, sie würden so gerne Frauen fördern und deren Geschäftsideen finanzieren, wenn sie nur welche fänden? Sie geben den Frauen die Schuld. Andersherum würde ein Schuh draus: Frauen wären als Gründerinnen sichtbarer und viel erfolgreicher, wenn sie im gleichen Maße finanziert würden. Es ist ein hässlicher Kreislauf: Die eine Seite sagt, sie könne keine guten Frauen finden, die andere Seite sagt, die Anstrengung sei es nicht wert.

          Wie kann man diesen Kreislauf durchbrechen?

          Das ist sehr schwierig, gerade weil das Gros der Diskriminierungen nicht absichtsvoll geschieht. Menschen sind unbewusst voreingenommen. Wenn wir andere Methoden der Bewertung von Leistungen fänden, dann würde sich einiges ändern. Man muss den Blick derer korrigieren, die Leute einstellen und Risikokapital vergeben.

          Sie also von ihrer eigenen Voreingenommenheit befreien?

          In gewisser Weise, ja. Wenn es Risikokapitalgebern wirklich ernst ist, dann sollten sie weniger Geschäftsessen vereinbaren und besser recherchieren. Sie müssten sich nicht nur die Ergebnisse der Investments anschauen, die sie getätigt haben, sondern auch die der Unternehmen, die sie leer ausgehen ließen. Denn hier liegen ihre größten Fehlentscheidungen. Genau das tun Risikokapitalgeber aber nicht. Sie müssten eine Unmenge von Daten sammeln und analysieren, um ihre eigene Voreingenommenheit zu erkennen. Anders wird es nicht gehen.

          Zur Person

          Vivienne Ming (45) hat sich auf Big Data spezialisiert. Mit ihren Modellen und komplexen Algorithmen versucht sie, aus einer Unmenge öffentlich zugänglicher persönlicher Daten das Potential von Menschen herauszulesen. Sie hat für ein Headhunting-Unternehmen Millionen von Profilen erstellt und die Rekrutierungsmethoden im Silicon Valley revolutioniert. Die promovierte Neurowissenschaftlerin forscht und lehrt in Berkeley und ist selbst mehrfache Gründerin. Zuletzt rief sie das Start-up Socos in Leben, das auf dem Feld der Bildungstechnologie agiert. Sie gilt als eine der spannendsten Tech-Frauen im Silicon Valley. Vor ihrer Geschlechtsumwandlung mit Mitte 30 hieß sie Evan Smith.

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