Nachhaltiger Konsum : Zeigt her eure Lieferkette
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Mit einem Scan die Lieferkette entlangspazieren – das wünschen sich immer mehr Kunden. Bild: Getty
Wer hat das Kobalt im Akku geschürft? Wer das rote Kleid geschneidert? All das können Hersteller ihren Kunden verraten. Wenn sie nur wollen.
Mit einem kleinen QR-Code, schwarz auf weiß am Etikett, öffnet sich die Geschichte einer Weltreise. Sie erzählt von einer Baumwollplantage in Tansania, einer Schneiderei in Indien, von der Fahrt über Meer und Straßen bis in einen Modeladen in Frankfurt. Jeder Schritt ist dokumentiert, Fotos zeigen die Gebäude und Menschen, denen die Hauptfigur begegnet ist und die sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist: eine Jeans.
So transparent möchten immer mehr Unternehmen ihre Lieferkette gestalten – Modelabels mit Ökoanspruch, große Ketten wie H&M, auch Industriekonzerne wie Volkswagen, BMW und Continental. Weil es Kunden und Investoren bringt. Und weil der Gesetzgeber Druck macht. Doch wie soll das funktionieren?
Noch 15 Monate haben deutsche Unternehmen mit über 3000 Mitarbeitern Zeit, um bei ihren Lieferanten die Einhaltung von Menschenrechten zu prüfen. Das hat der Deutsche Bundestag im Juni 2021 mit dem Lieferkettengesetz beschlossen. Rechtlich verantwortlich sind sie für ihre direkten Lieferanten. Bei konkretem Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen müssen sie auch bei indirekten Zulieferern nachforschen. Die Europäische Union könnte bald nachschärfen und eine Risikoanalyse aller Lieferanten fordern. Und so beschäftigen sich immer mehr Unternehmen damit, die eigene Blackbox „Lieferkette“ zu knacken.
Der Aufwand lohnt sich
Allen voran die Modeindustrie. In Excel-Tabellen oder PDF-Dokumenten, bereit zum Download auf ihrer Website, listen Unternehmen wie Benetton oder Esprit ihre wichtigsten Zulieferer auf. Kunden mit ausreichend Forschergeist und Zeit können dann die Adressen der Lieferanten auf Google eingeben und bestenfalls auf deren Websites mehr über den Betrieb erfahren. 967 Zulieferer sind bei Esprit vermerkt – das sind viele, aber längst nicht alle. Denn vollständig sind die Listen meist nicht.
Je weiter man in der Kette zurückgeht, desto mehr Lieferanten fehlen. Auch welche Näherei oder Färberei an den einzelnen Produkten gearbeitet hat, an dem roten Hemd der Herbstkollektion oder dem weißen T-Shirt aus dem Dauersortiment, bleibt den Kunden oft verborgen. Wenig überraschend, wenn im Schnitt rund 140 Unternehmen allein an der Herstellung eines Herrenhemdes beteiligt sind.
Noch komplizierter wird es bei Smartphones. Oder Autos. Ein Auto besteht aus rund 10 000 Einzelteilen, produziert in den verschiedensten Ländern der Welt. Wer soll da noch den Überblick bewahren?
Einfach ist das gewiss nicht. Aber der Aufwand lohnt sich. Nicht nur, um Strafzahlungen zu vermeiden: Transparente Lieferketten sind widerstandsfähiger und Turbulenzen und Engpässe nicht ausgeschlossen. Das hat die Pandemie gezeigt. Viele Unternehmen wollen darauf reagieren. Dafür aber müssen sie wissen, was ihre Zulieferer treiben. Und die Zulieferer ihrer Zulieferer. Und deren Zulieferer auch.
Der schöne Nebeneffekt: Mit Transparenz können Hersteller ihre Kleidung, Autos, Möbel und Smartphones immer besser vermarkten. Immer mehr Kunden möchten nicht nur eine Jeans, sondern ein gutes Gewissen kaufen. Die Bilder von Kinderarbeit, einstürzenden Fabriken oder verpesteten Flüssen haben sich in die Köpfe eingebrannt. Nur 47 Prozent der 250 größten Marken veröffentlichen ihre direkten Zulieferer, zeigt der Fashion Transparency Index 2021. 85 Prozent der Modekunden erwarten laut einer Studie der Beratungsagentur KPMG, mehr Informationen zu erhalten.
Eine Kennnummer für jeden Lieferanten
Doch sich im Dschungel der Excel-Tabellen zu verirren ist leicht. Schon die Hersteller verlieren da oft den Überblick, wie soll es erst den Kunden gehen? Übersichtlicher sind Online-Datenbanken, in denen jedes Unternehmen ein Register seiner Zulieferer erstellen und seine Angaben auch grafisch veranschaulichen kann. Zum Beispiel auf einer Weltkarte. Ein automatischer Fragebogen, hinterlegt in der Datenbank, erspart den Firmen die Mühe, jeden Zulieferer einzeln per Telefon oder E-Mail aufzuspüren – ein Autohersteller kennt seine direkten Lieferanten, doch beim Glas für die Rücklichter wird es vielleicht schwer.
Wie ein Kettenbrief arbeitet sich der Fragebogen durch die Etappen. Der Autohersteller fordert seine direkten Zulieferer auf, sich und ihre Lieferanten in der Datenbank einzutragen und Informationen zu Umweltstandards oder Arbeitsbedingungen zu teilen. Das wiederum sollen auch die Zulieferer der zweiten, dritten, vierten Produktionsstufe tun – bis zum Rohstoff. Jeder Lieferant erhält dabei eine eigene Kennnummer.
In manchen Branchen, wie der Automobilindustrie oder dem Textilsektor, haben sich Unternehmen zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Datenbank zu erstellen. Textilunternehmen finden im Open Apparel Registry (OAR) verlässliche Lieferanten. Kunden sehen dort, wer ihre Kleidung fabriziert hat. Per Suchfunktion können sie die teilnehmenden Marken auswählen und deren Lieferanten auf einer Weltkarte einsehen. 92 Marken sind dabei, darunter Adidas, Tchibo oder Patagonia. Der Haken: Nicht alle Zulieferer sind registriert. Das liegt oft nicht an den Abnehmern, sondern an den Zulieferern. „Sie fürchten, dass sie übersprungen werden könnten, weil sich ihre Auftraggeber direkt an die Lieferanten von vorhergehenden Stufen wenden könnten“, sagt Frank Ebinger, Professor für Transformationsmanagement an der TH Nürnberg.
Da geht also noch mehr. Vollständig und vertrauenswürdig soll die Datensammlung sein. Kann Blockchain vielleicht der Schlüssel sein? In der Welt der Kryptowährung Bitcoin bejubeln Anleger die Blockchain immerhin genau dafür. Nun soll sie auch Lieferketten entwirren.
Und zwar so: Die Blockchain funktioniert wie ein digitales Notizbuch für das Produkt. Bei jeder Etappe trägt sich der Fabrikant ein und bestätigt, seine Aufgabe erledigt zu haben. Wurde die Jeans in Indien genäht, unterschreibt das der indische Fabrikant auf der Blockchain. Auch die Färberei in Pakistan trägt sich ein, die Wäscherei, das Logistikunternehmen und so weiter. Für den Eintrag klicken sie alle auf einen Link per E-Mail oder verwenden eine App. Riesige Rechenkapazitäten brauche man dazu also nicht, erklärt Volker Krümpel, Mitgründer des Blockchain-Start-ups Minespider. Wohl aber einen Zugang zum Internet. Den aber benötigen viele Fabrikanten für ihre Geschäfte mittlerweile ohnehin. Nur, was ist mit den Kleinbauern, die nicht alle ein Smartphone oder Laptop haben? Spätestens da stößt die Blockchain an ihre Grenzen.
Fehlt auf der Blockchain eine Etappe der Produktion, fällt das schnell auf. Hat etwa die Schneiderei nicht unterschrieben, so können die Unternehmen dieses Loch häufig mit einem Telefonat oder einer E-Mail stopfen. Wer das digitale Heftchen lesen darf, können Unternehmen mit ihren Lieferanten absprechen. Kontrolleure? Unbedingt. Aber Konkurrenten? Lieber nicht. Einen Radiergummi für die Blockchain gibt es übrigens nicht. Das schützt die Unternehmen und ihre Kunden vor Manipulation.
Alles steht im Blockchain-Notizbuch
Zusätzlich bietet das Blockchain-Notizbuch auch Platz für weitere Informationen. Denn mit einer Liste von Namen und Adressen der Lieferanten ist es ja nicht getan, auf die Standards kommt es an. Und die können nur Kontrolleure vor Ort überprüfen. Umweltzertifikate, Bestätigungen über faire Arbeitsbedingungen oder konkrete Standortdaten lassen sich einfach in der Blockchain ergänzen.
Dass die Blockchain als Lupe für die eigene Lieferkette funktionieren kann, erkennen immer mehr Branchen. In der Diamantenindustrie hilft sie, die Herkunft der Edelsteine herauszufinden und so den Kauf von Blutdiamanten aus konfliktreichen Minen zu verhindern. In den USA verwendet das Lebensmittelunternehmen Bumble Bee die Blockchain, um mit einem Tracking-Code auf der Thunfischdose über die Herkunft des Produkts zu informieren. In der Automobilindustrie soll sie den Weg „von der Mine bis zur Fabrik“ dokumentieren. Volkswagen macht das so, auch BMW und der Automobilzulieferer Continental experimentieren mit der Technologie.
Bis jetzt setzen trotzdem nur wenige Unternehmen die Blockchain für ihre Lieferkette ein. Oft handelt es sich um Pilotprojekte, die Umstellung kostet Zeit – und Geld. Konzerne wie Apple, BMW oder H&M können sich das leisten. Doch was ist mit dem Tischler von nebenan?
Klein anfangen und sich erst dann steigern, rät der Lieferkettenexperte Ebinger. Kleine und mittlere Unternehmen sollen sich auf jene Teile in ihren Produkten fokussieren, die häufig mit Umweltschäden oder Verletzungen der Menschenrechte verbunden sind – etwa Metalle oder Chemikalien. Dafür muss es nicht unbedingt die Blockchain sein, Kleinbetrieben reicht oft eine einfache Datenbank. Und wenn das klappt, könnten sie sich an die anderen Etappen herantasten. „Alles andere wäre überfordernd“, sagt Ebinger.
In bestimmten Branchen müssen sich Unternehmen ohnehin schon mit ihrer Lieferkette auseinandersetzen: Kaufen europäische Unternehmen die Mineralien Zinn, Tantal oder Gold außerhalb der EU, sind sie seit Januar 2021 verpflichtet, ihre Zulieferer zu prüfen. Und auch im Chemiesektor müssen Betriebe alle Stoffe genau im Blick haben, die sich etwa in Lackfarben oder Reinigungsmitteln finden. Das hat die EU in der REACH-Verordnung 2007 festgelegt, um gesundheitliche Risiken auszuschließen.
Der globalen Vernetzung tun die wachsenden Anforderungen nichts. Nur sehr wenige Unternehmen wollen in Zukunft näher an Deutschland produzieren, zeigt eine Studie des Ifo-Instituts München. Unsere Smartphones, T-Shirts und Küchenmaschinen werden weiterhin Tausende Kilometer rund um den Globus zurücklegen, bevor sie in unseren Einkaufstaschen landen. Was sich aber ändern könnte, ist der Aufdruck am Etikett – von „made in“ zu „made by“. Darunter ein QR-Code zum Einscannen. Und der Kurzfilm einer Weltreise beginnt.