Migration : Massenwanderungen werden zum Dauerzustand
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Migranten in Berlin. Bild: Reuters
Die Welt steht vor riesigen Migrationsbewegungen von jungen armen in alte reiche Länder. Davor warnen Weltbank und Währungsfonds. Sie führen die Entwicklung weniger auf politische als auf tiefgreifende Veränderungen in vielen Ländern zurück.
Jahrzehnte der Massenmigration von armen in reiche Länder - das erwarten Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) laut einem gemeinsamen Bericht, den sie jetzt in Lima vorgelegt haben. Migration in Industrienationen werde zu einem permanenten Phänomen, prophezeien die Experten. Sie führen die Entwicklung allerdings weniger auf politische Krisen zurück, die aktuell die großen Flüchtlingsströme produzieren, als auf tiefgreifende demographische Veränderungen in vielen Ländern und auf das Wohlstandsgefälle.
Dem Bericht zufolge sind 90 Prozent der globalen Armut auf die Gruppe der einkommensschwachen Länder mit jungen schnell wachsenden Bevölkerungen konzentriert. Gleichzeitig werden drei Viertel des globalen Wachstums in wohlhabenden Ländern erzeugt mit deutlich niedrigeren Geburtenraten. „Wenn Länder mit alternden Bevölkerungen einen Weg finden, Flüchtlinge und Migranten in ihre Volkswirtschaften einzugliedern, hat jeder etwas davon“, sagt Weltbank-Präsident Jim Yong Kim. Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen belegten, dass Migranten hart arbeiten und mehr Steuern erzeugten als Kosten für die Sozialsysteme. Der Chefökonom des IWF, Maurice Obstfeld, hatte Deutschland als gutes Beispiel herausgestellt. Das Land habe eine reichhaltige Erfahrung in der Integration von Migranten.
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Mehr erfahrenDie aktuellen Flüchtlingsströme übertönen einen säkularen Trend. Erstmals seit mehr als fünfzig Jahren sinkt der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) an der Weltbevölkerung. Der Prozentsatz der Erwerbsbevölkerung erreichte 2012 einen Höhepunkt mit mehr als 65 Prozent, stagnierte und geht nun nach unten. Zuvor war er über fünf Dekaden gestiegen. Dieser globale demographische Trend hat soziale Auswirkungen, weil von der Wertschöpfung der arbeitenden Bevölkerung Kinder und Rentner finanziert und das Wirtschaftswachstum eines Landes erzeugt wird.
Die Gewichtsverschiebung in der Zusammensetzung der Weltbevölkerung ist einem großen Erfolg der Medizin zu verdanken: Die Leute werden immer älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 47 Jahre (1950) auf 72 Jahre (2015) gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Geburtsrate dramatisch gesunken von 5 Kindern je Frau im Jahr 1950 auf 2,45 Geburten heute. Sie wird der Prognose zufolge bis 2050 knapp über der „Ersatzrate“ liegen: Das ist die Rate, bei der Geburten den Todesfällen entsprechen.
Fallende Geburtenraten auch in Entwicklungsländern
Fallende Geburtenraten verzeichnen nicht nur die Industrienationen, sondern auch die meisten Entwicklungsländer. In vielen dieser Länder liegen die Geburtenraten inzwischen gerade so hoch, dass die Bevölkerungen weder schrumpfen noch wachsen. Anders ist es in den reichen Ländern: Deutschland wird dem Bericht zufolge sogar bis 2050 um 7,7 Prozent schrumpfen, die niedrige Geburtenrate wird nur zum Teil durch Einwanderung und durch steigende Lebenserwartung ausgeglichen, prophezeien die Experten.
Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen sind dabei aber nur unvollständig berücksichtigt. Noch viel stärker als Deutschland aber werden osteuropäische und zentralasiatische Länder schrumpfen: Hier kombinieren sich niedrige Geburtsraten und Auswanderung. Das Extrembeispiel ist Bulgarien, das nach Kalkulation der Weltbank-Experten bis 2050 knapp 30 Prozent seiner Bevölkerung verlieren könnte.
Zuwanderung kann alternde Gesellschaften verjüngen. Der Bericht verweist auf Untersuchungen in Europa, denen zufolge die Migranten aus armen Ländern für mindestens eine Generation eine höhere Geburtsrate haben als das aufnehmende Land. Ohne Zuwanderung würde die Erwerbsbevölkerung in der Europäischen Union bis 2020 um elf Millionen schrumpfen, bis 2050 sogar um 50 Millionen, allein Deutschland würde bis 2020 rund 1,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter verlieren.
Migration verändert das Bild: Dank Zuwanderung steigt die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sogar leicht bis 2020. Einwanderer sind dem Bericht zufolge in zwei Segmenten des Arbeitsmarktes überrepräsentiert: Im Segment der Hochqualifizierten und im Bereich der Unqualifizierten. Im Schnitt sind sie aber weniger gut ausgebildet als die Einheimischen.