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Nach Fukushima : Japans Wiederaufbau lahmt

Nach der Katastrophe: 80 Prozent des Stadtgebiets von Rikuzentaka wurden am 11. März 2011 verwüstet Bild: dpa

Vor drei Jahren zerstörte ein Tsunami viele Städte und das Kernkraftwerk Fukushima. Noch immer sind die Städte verwaist. Dem Land fehlen die Bauarbeiter. Und Olympia 2020 macht auch schon Sorgen.

          5 Min.

          Masaru Abe steht unter den Gerüsten für eine kilometerlange Strecke von Förderbändern. Über diese Bänder soll die Erde transportiert werden, mit denen die Innenstadt der vor drei Jahren zerstörten Stadt Rikuzentaka um 8 Meter aufgeschüttet werden soll. Oben auf den Gerüsten hämmern Bauarbeiter. Die Förderbänder führen von einem nahen Berg direkt zu der Ödfläche, wo vor dem verheerenden Tsunami vom 11. März 2011 Geschäfte, Restaurants, Wohnhäuser und Bürogebäude standen. 6,5 Milliarden Kubikmeter Erde werden benötigt, um den Boden um 8 Meter aufzuschütten, sagt Abe. Mit den Förderbändern dauert das gut ein Jahr. „Mit Lastwagen würden wir mehr als sieben Jahre brauchen.“ Der Mittvierziger ist in der Stadtverwaltung zuständig für die Planung für den Wiederaufbau der Stadt.

          Carsten Germis
          Wirtschaftskorrespondent in Hamburg.

          Bilder der zerstörten Kleinstadt Rikuzentaka waren unter den ersten, die der Welt damals einen Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung gaben. Etwa 1800 Todesopfer waren zu beklagen. Abe zeigt auf einen nahen Berg im Süden der Stadt, an dem die Förderbänder enden. 120 Meter hoch ist er. „Der wird bis auf eine Höhe von 40 Meter komplett abgetragen“, berichtet der Stadtplaner. Schon im Frühjahr soll damit begonnen werden, die Fläche hinter der alten Bahnlinie aufzuschütten. Während Abe erzählt, rollen pausenlos Lastwagen durch die Stadt. Vereinzelt sind in der Nähe des Meeres schon Hügel aufgeschüttet worden. Hier darf sich nur Gewerbe ansiedeln, Wohnhäuser sollen später auf dem neuen Grund jenseits der Bahnlinie gebaut werden, gut 500 Meter entfernt.

          „Es könnte schneller gehen mit dem Wiederaufbau“, sagt Abe. Viele Gemeinden, die vor drei Jahren vom Tsunami zerstört worden sind, haben Probleme, ihre Bauaufträge zu vergeben. Am Geld mangelt es nicht, aber überall fehlt es an Bauarbeitern. Dabei sind allein in der Präfektur Iwate schon fast 400 Milliarden Yen (umgerechnet knapp 2,8 Milliarden Euro) für den Wiederaufbau ausgegeben worden, dieses Jahr werden es 38,5 Prozent mehr als im Vorjahr sein.

          Der Baubeamte Abe sorgt sich, dass der Mangel an Bauarbeitern und die dramatisch gestiegenen Material- und Arbeitskosten die ehrgeizigen Wiederaufbaupläne in Rikuzentaka bremsen könnten. „Das macht uns schon Sorgen“, sagt er. Zwar werden den Unternehmen bei öffentlichen Bauaufträgen in der Region Tohoku höhere Personalkosten zugebilligt, doch der Sog nach Tokio wird dennoch immer stärker.

          Japans Regierung setzt auf ausländischen Bauarbeiter

          Dabei ist es nach Berechnungen von Kosuke Motani, dem Chefökonomen des Japan Research Institute, weniger der Aufbau der Infrastruktur für Olympia 2020, der den Wiederaufbau in der Region Tohoku, dem Nordosten Japans, verzögert, wo auch Fukushima liegt. Japans Regierung hat mit ihrer lockeren Finanz- und extrem lockeren Geldpolitik in den letzten Monaten in den besseren Lagen der Hauptstadt einen regelrechten privaten Bauboom ausgelöst. Erstmals seit Jahren steigen dort auch wieder die Preise. „Das macht das abgelegene Tohoku natürlich weniger attraktiv“, erklärt Motani. Japan hat derzeit noch rund 4,5 Millionen Beschäftigte in der Bauindustrie. Das sind eine Million weniger als zur Hochzeit 1997, als Japan versuchte, mit gigantischen öffentlichen Infrastrukturprogrammen aus der Krise zu kommen.

          Das Trümmerfeld ist längst beseitigt, doch für den Wiederaufbau fehlen qualifizierte Arbeitskräfte – die sind in Tokio beschäftigt
          Das Trümmerfeld ist längst beseitigt, doch für den Wiederaufbau fehlen qualifizierte Arbeitskräfte – die sind in Tokio beschäftigt : Bild: Bloomberg

          Der Wiederaufbauplan für die vom Tsunami besonders stark zerstörte Küstenregion der Präfektur Iwate sieht in den kommenden vier Jahren vor, endlich den Wiederaufbau von Wohnsiedlungen und kleinen Betrieben voranzutreiben. Noch immer leben an der Küste allein in der Präfektur Iwate fast 12.000 Menschen in Notunterkünften, fast 5 Prozent aller Einwohner der Region. In den anderen Präfekturen Fukushima und Miyagi sieht es noch schlechter aus.

          Die auf Tokio ausgerichtete Politik von Ministerpräsident Shinzo Abe gibt vielen Menschen im Norden das Gefühl, sie seien vergessen worden. Zu allem Überfluss will Abe die zwei Zugstunden entfernte Hauptstadt Tokio nun auch zur Sonderwirtschaftszone erklären, die Unternehmen besonders attraktive Angebote macht. Iwates Gouverneur Takuya Tasso kritisiert das nicht offen. Aber auch er meint mit vorsichtigen Worten, dass die Zentralregierung in Tokio „nur teilweise in der Lage ist, die Situation hier zu verstehen“.

          Japans Regierung überlegt seit einigen Wochen, wie sie die im ganzen Land spürbare Lücke bei Arbeitskräften am Bau schließen kann. So sollen mehr Auszubildende aus China oder Vietnam ins Land gelassen werden. Offiziell lernen die zumeist jungen Männer in Japan dann moderne japanische Bautechnik kennen, in der Praxis werden sie oft unter miserablen Arbeitsbedingungen als billige Arbeitskräfte beschäftigt. In den Kommunen stößt der Vorschlag, ausländische Bauarbeiter für den Wiederaufbau nach Tohoku zu holen, größtenteils auf Ablehnung. „Die örtlichen Unternehmer sagen, es sei nicht notwendig, die Zahl der Ausländer zu erhöhen“, berichtet Tasso.

          Viele der Geschäftsinhaber sind älter als 70

          Doch nicht nur die Bauindustrie hat Probleme, qualifizierte Mitarbeiter für Tohoku zu finden. In Otsuchi hat vor wenigen Tagen ein neues Einkaufszentrum geöffnet. Vom Modekaufhaus „Uniqlo“ bis zur Supermarktkette „Aeon“ sind alle Großen Japans dabei. 400 Arbeitsplätze schaffen sie, viele sind noch unbesetzt. Es werden mittlerweile in Otsuchi 10 Prozent mehr Jobs angeboten als gesucht. Zu viele junge Menschen haben seit der Tsunami-Katastrophe die Region verlassen. In vielen kleinen Städten an der Küste Tohokus zeige sich jetzt bereits wie durch ein Brennglas, was auf Japan als rapide alternde Gesellschaft ohne Zuwanderung schon bald überall zukommen werde, erklärt Ökonom Motani.

          Auch Shiguru Yamazaki sieht das mit Sorge. Der 66 Jahre alte Mann ist Sprecher der 40 Einzelhändler, die in der provisorischen Ladenzeile Otsuchis untergekommen sind. Bürokratie, Eigentumsprobleme beim Land und der neue Konkurrenzdruck von der Einkaufshalle machen ihm zu schaffen. „Wir haben keine Ahnung, in wie vielen Jahren wir unsere Geschäfte wieder an permanenten, endgültigen Standorten aufmachen können“, klagt er und weist auf die kleinen, provisorischen Läden. „Hier können wir doch nicht ewig bleiben.“

          Ein großes Problem ist, dass die Kommunen oft keine neuen Baugebiete ausweisen können, weil die Eigentumsrechte an Grund und Boden unklar sind. Davon ist in Iwate immerhin jedes dritte Projekt betroffen, erklärt Gouverneur Tasso. Appelle an die Regierung in Tokio, im Zweifelsfall schneller verstaatlichen zu können oder Eigentumsfragen schneller zu klären, verhallen bislang ungehört. Auch fehlt es in den Kommunalverwaltungen oft an qualifizierten Mitarbeitern, um diese schwierigen Rechtsfragen schnell zu regeln. Dabei drängt die Zeit. „Viele der Geschäftsinhaber in Otsuchi dürften älter als 70 ein, bis diese Fragen geklärt sind“, sagt Yamazaki. „Und es gibt viel zu wenig junge Leute, die neue Geschäfte eröffnen.“ Mehr als 2.500 Menschen sind in den vergangenen Jahren aus der Kleinstadt fortgezogen.

          Dabei würden viele junge Menschen gerne bleiben, wenn es attraktive Arbeit für sie gäbe. An der Oberschule in Otsuchi haben sich Jugendliche in einer Arbeitsgruppe lange Zeit darüber Gedanken gemacht, wie sie sich den Wiederaufbau ihrer Heimatstadt vorstellen. Viele von ihnen hängen an Otsuchi, wie der Schüler Kotome Kobayashi. Er träumt davon, in einem Tourismusunternehmen zu arbeiten. Andere sagen: „Das, was ich lernen will, kann ich hier nicht lernen.“ Was bleibt, ist es so zu machen wie die meisten Jungen: sein Glück in Städten wie Tokio oder der nahen Regionalhauptstadt Sendai zu suchen. „Mein Vater und mein älterer Bruder haben die Stadt schon verlassen“, berichtet eine Schülerin und zuckt mit den Schultern. Es fehlt an Bauarbeitern und Kassiererinnen, qualifizierte Ausbildungsplätze für junge Menschen gibt es nicht genug.

          77,7 Prozent der Unternehmen in Iwate, die durch den Tsunami zerstört worden sind, arbeiten nach Angaben des Gouverneurs wieder. Der Fischfang allerdings hat sich erst zu 63 Prozent erholt. Hauptgrund für die Verzögerung auch hier: Mangel an qualifizierten Bauarbeitern, Mangel an Zement sowie stark gestiegene Material- und Arbeitskosten. Nach Ansicht des Flutopfers Shinji Sazasuki, 61 Jahre alt, trägt Ministerpräsident Abe für den schleppenden Wiederaufbau eine gehörige Portion Mitverantwortung – obwohl seine Regierung den Etat für Tohoku deutlich erhöht hat.

          Sazasuki lebt jetzt seit bald drei Jahren in einer der größten provisorischen Wohnsiedlungen Iwates für Tsunamiopfer, im „Heita Temporary Housing Complex Nr. 6“. 430 Menschen wohnen hier, 19,8 Quadratmeter hat ein Singlehaushalt, 39,6 Quadratmeter eine Familie mit Kindern. Natürlich verzögere der durch die sogenannte Abenomics hervorgerufene Bauboom in Tokio den Wiederaufbau, sagt Sazasuki. Und Olympia 2020? „Die Bauunternehmen sind hier jetzt doch schon an der Belastungsgrenze.“ Drei Jahre nach dem Tsunami lebt Sazasuki immer noch in einem Provisorium, ein neues eigenes Heim ist nicht in Sicht – kein Wunder, dass an diesem Ort nicht nur er nicht glauben mag, dass die Olympischen Spiele in Tokio auch Tohoku den sehnsüchtig erwarteten Aufschwung bringen.

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