Tarifrunden Chemieindustrie : Die Krise dämpft die Lohnpolitik – doch wie lange noch?
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Ein Mitarbeiter eines Chemie-Unternehmens im Chemiepark Leuna Bild: dpa
Am Montag und Dienstag verhandeln die Tarifparteien in einer Lohnrunde – ausgerechnet jetzt. Die Furcht vor einem Gasmangel bremst die Gewerkschaften, denn ohne Gas kann die Branche nicht produzieren.
Mit dem rasanten Anstieg der Teuerung wächst unter Ökonomen die Sorge, dass die Lohnpolitik zu einem eigenen Problemfaktor wird. Es drohe eine „Entankerung der Inflationserwartungen“, was über höhere Lohnsteigerungen „zu starken Zweitrundeneffekten oder gar einer Lohn-Preis-Spirale führen“ könnte, warnte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seiner jüngsten Konjunkturanalyse. Kurz darauf erreichte die amtliche Inflationsrate mit 7,3 Prozent den nächsten Höchststand.
Ein Auftritt der drei führenden Industriegewerkschafter passt indes nicht ganz ins Bild: Statt Arbeitgeber und Öffentlichkeit auf hohe Lohnforderungen einzustimmen, warnten Jörg Hofmann (IG Metall), Michael Vassiliadis (IG BCE) und Robert Feiger (IG Bau) dieser Tage eindringlich vor einem Niedergang des Industriestandorts. Zwar bezog sich ihre Warnung auf einen möglichen Ausfall russischer Gaslieferungen und dessen Folgen für industrielle Wertschöpfungsketten, also gar nicht auf die Löhne. Doch wer eine offensive Tarifpolitik vorbereitet, schlägt andere Töne an.
Der Ukraine-Krieg ändert alles
Die Probe aufs Exempel erlebt derzeit die Chemieindustrie, die ohne Gas nicht produzieren könnte – die Tarifparteien dort haben ausgerechnet jetzt eine Lohnrunde für die 580.000 Beschäftigten zu führen. Am Montag und Dienstag treffen sich die Chemie-Gewerkschaft IG BCE und der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC), Vertretung für 1900 Unternehmen, zur wohl entscheidenden Verhandlung. Bei dem Auftritt zum Thema Gasversorgung ging IG-BCE-Chef Vassiliadis auch darauf ein – mit zweiteiliger Botschaft: „Falls es wirklich zum Ausfall von Gaslieferungen kommt und es in der Industrie zu Stillstand mit flächendeckenden Folgen für Arbeitsplätze führt, dann hebt das natürlich jede Tarifrunde aus den Angeln“, sagte er. Dann sei absoluter Krisenmodus angesagt. Allerdings: „Solange wir es mit keiner solchen Ausnahmesituation zu tun haben, stehen wir nicht bereit, sozusagen eine Nullrunde auf Vorrat abzuschließen.“
Verglichen mit der Startaufstellung im Februar, ist aber auch das schon defensiv. Denn die IG BCE wurde – als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine – von der Brisanz ihrer eigenen Lohnforderung selbst überrascht. Anstelle einer festen Prozentzahl hatte sie für die Beschäftigten eine „nachhaltige Stärkung der Kaufkraft“ verlangt. Streng genommen triebe also jeder Inflationsanstieg die Lohnforderung weiter hoch. Als die IG BCE diese beschloss, erwartete man aber noch Inflationsraten um 3 Prozent und keinen Krieg. Danach stellte sie bald klar: „Seit dem 24. Februar ist alles anders.“
Die Pläne der Ampel können helfen
Das mindert aber nicht die Kaufkrafteinbußen der Beschäftigten, was nun der Gewerkschaft das Erwartungsmanagement erschwert. Das klingt auch bei Vassiliadis durch. Einerseits verweist er auf Chemieunternehmen, die sich rühmten, den Anstieg der Energie- und Materialpreise gut an ihre Kunden weitergeben zu können – „und wenn das so ist, dann will ich das für unsere Beschäftigten so auch“. Zugleich aber gesteht Vassiliadis zu: Natürlich sei die unübersichtliche Wirtschaftslage ein guter Grund, in den Tarifverhandlungen darüber zu beraten, „wie man das zeitlich organisiert“.
Das klang auch schon in Äußerungen der Arbeitgeber an: Für einen Kompromiss könnten diesmal Einmalzahlungen besondere Bedeutung bekommen, weil sie im Unterschied zur üblichen Prozenterhöhung die Personalkosten nicht gleich dauerhaft steigern. Bei kurzer Vertragslaufzeit bekäme die Gewerkschaft dafür aber dann die Chance, bald Nachschläge durchzusetzen – sofern die Branche nicht wegen Gasmangels völlig stillsteht.
Außerdem weisen die Arbeitgeber auf die Wirkung der Entlastungspakete hin, mit denen die Ampelkoalition den Preisanstieg für Privathaushalte abfedert; darunter die geplanten 300 Euro Energiekostenzuschuss und eine Kilometerpauschale. Der BAVC hat ausgerechnet, dass dies Chemiebeschäftigte der mittleren Lohngruppe – knapp 55.000 Euro brutto im Jahr – bezogen auf das Nettoeinkommen um bis zu 2,5 Prozent entlaste. Seine Folgerung: „Das stärkt die Kaufkraft und mindert den Druck, die Inflation über Tariferhöhungen auszugleichen.“
Gebannt ist die Gefahr einer sich selbst verstärkenden Lohn-Preis-Spirale damit aber nicht. Denn die nächsten heiklen Tarifrunden kommen im Herbst – die der IG Metall für vier Millionen Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie sowie die Verdi-Tarifrunde für knapp drei Millionen Staatsbedienstete. Bis dahin wird sich die Inflation noch tiefer in die Geldbeutel der Beschäftigten hineinfressen, was auch der Sachverständigenrat in Rechnung stellt: „Die Dynamik für Lohnforderungen dürfte ab dem zweiten Halbjahr 2022 zunehmen.“
Allerdings sortieren sich jetzt auch die tarifpolitischen Welten neu. Industriebeschäftigte sehen nach den vielen guten Aufschwungjahren plötzlich wieder Risiken für ihre Arbeitsplätze, was die Bereitschaft zu einer gewissen Lohnzurückhaltung fördern kann. Im öffentlichen Sektor kennt man diese Sorge jedoch nicht. Wie groß dort die Konfliktbereitschaft ist, hat Verdi gerade schon in kleineren Tarifrunden vorgeführt. Als andere Teile der Gesellschaft noch unter Kriegsschock standen, rief sie Luftsicherheitskräfte und Kita-Erzieher zum Streik.