Leitartikel Wirtschaft : Frankreich zweifelt an sich selbst
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Bald legt Frankreich wieder seine obligatorische Sommerpause ein. Dabei wäre jetzt nicht Entspannung gefragt, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern. Doch die Franzosen sind in ein Loch aus Selbstzweifeln gefallen.
Bald legt Frankreich wieder seine obligatorische Sommerpause ein. Dabei wäre jetzt nicht Entspannung gefragt, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern. Doch die Franzosen sind in ein Loch aus Selbstzweifeln gefallen. Das chronische Zögern der Regierung vor notwendigen Reformen, das trotzige, aber konzeptlose Nein zur EU-Verfassung, das Ende des Olympiatraums von Paris und schließlich die Bomben von London, die auch Frankreich schockierten - überall macht sich Mutlosigkeit breit. Um so dringender wäre nun eine Wende zu einer wirtschaftfreundlichen Politik. Nur mit dieser wäre dem Grundübel in der Gesellschaft beizukommen - der hohen Arbeitslosigkeit.
Premierminister Dominique de Villepin hat den Kampf für mehr Beschäftigung zur obersten Priorität erklärt. Daran will er sich messen lassen, auch wenn er keine Ziele vorgibt, die eine solche Messung ermöglichten. Schon sein Vorgänger Jean-Pierre Raffarin mußte sein Versprechen, die Arbeitslosenquote von mehr als zehn Prozent in diesem Jahr auch nur um ein Zehntel zu verringern, kleinlaut zurückziehen. Der von Sozialminister Jean-Louis Borloo genannte Richtwert, in fünf Jahren eine Quote von sechs Prozent zu erreichen, gilt als dessen Privatsache, weil er sehr riskant ist. Seit zwanzig Jahren liegt die Arbeitslosenquote nicht mehr unter acht Prozent.
Villepin setzt vor allem auf die Erlaubnis eines neuen Arbeitsvertrages, der aufgrund geringeren Kündigungsschutzes kleine Unternehmen zu Neueinstellungen ermutigen soll. Diese Initiative geht in die richtige Richtung, doch nicht weit genug. Wechselnde Regierungen haben immer wieder neue Arbeitsverträge geschaffen, die den Unternehmen mehr Flexibilität brachten. Von dieser Möglichkeit wird so umfassend Gebrauch gemacht, daß eine regelrechte Zweiklassengesellschaft unter den Beschäftigten entstanden ist. Rund 14 Prozent arbeiten mit Kurzzeit-Verträgen von höchstens 18 Monaten, die nur einmal verlängert werden dürfen, während der Rest unbefristete Beschäftigungsverhältnisse genießt und schwer kündbar ist. Der erhoffte Wechsel von den unsicheren in die sicheren Verträge ist gering. Kein Wunder, daß viele Franzosen über mangelnde Planbarkeit der Zukunft klagen. Die Spaltung des Arbeitsmarktes hat nicht den gewünschten Beschäftigungseffekt gebracht. Die Jugendarbeitslosigkeit bis zum Alter von 25 Jahren ist mit 23 Prozent skandalös hoch, auch wer über 50 Jahre alt ist, hat statistisch wenig Chancen auf eine Stelle. Jungen, gering qualifizierten Menschen erschwert der vergleichsweise hohe Mindestlohn den Einstieg in den Arbeitsmarkt; bei den Älteren machen Strafzahlungen im Kündigungsfall die Einstellung unattraktiv.
Jegliche Auflockerung fand ihre Grenzen bisher am ebenso starren wie detailreichen Arbeitsrecht, das die Gewerkschaften verteidigen, darunter den Anspruch auf bezahlten Urlaub. "Die Freiheit des Denkens hört dort auf, wo der Code du Travail anfängt", hat die neue Arbeitgeberpräsidentin Laurence Parisot angemerkt. Doch bisher wagte sich kein maßgeblicher Politiker an das Rechtswerk heran. Das französische Arbeitsrecht knüpft beispielsweise aufwendige Bedingungen an Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen. Diese sind nur erlaubt, wenn die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens schon bedroht ist; zur vorbeugenden Vermeidung einer Krise oder zur allgemeinen Steigerung der Produktivität sind sie nicht gestattet. Geht es einer Muttergesellschaft, wenn vorhanden, dabei noch gut, sind Entlassungen zusätzlich erschwert. Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern müssen vier bis zehn Monate lang in speziell eingerichteten Einheiten für die betroffenen Mitarbeiter eine neue Beschäftigung suchen. Personalabbau wird zudem häufig vor Gericht angefochten. Nach einer Studie aus den neunziger Jahren verlieren die Arbeitgeber im Durchschnitt drei Viertel aller Fälle; eine Rate, die auch heute noch als aktuell gilt.
Der umfangreiche Kündigungsschutz ist, wie in Deutschland, ein Jobkiller ersten Ranges. Die Regierung müßte ihn daher auch für die große Mehrheit der unbefristeten Arbeitsverträge lockern. Bei ausreichendem Wirtschaftswachstum könnte es so wieder zu mehr Anstellungen kommen, die auch eine Chance auf Dauerhaftigkeit hätten. Solche Maßnahmen dürften freilich nicht isoliert bleiben. Die staatliche Arbeitsvermittlung ist nicht effektiv. Die von Sozialminister Borloo versprochenen Reformen haben sich verspätet, weil sie zu kompliziert sind und die Bedürfnisse der Wirtschaft zuwenig berücksichtigen. Mehr als früher - doch immer noch nicht ausreichend - werden die Arbeitslosen daraufhin kontrolliert, ob sie sich aktiv um eine Stelle bemühen. Weil die staatlichen Arbeitslosen-Zuwendungen, verglichen mit einem Lohn, weiter großzügig sind, bleiben viele Franzosen dennoch lieber zu Hause.
So greift ein Problemkreis in den anderen. Die staatlichen Sozialkassen stecken weiter im Defizit, da die Leistungsansprüche die Einnahmen übersteigen. Die Folge sind hohe Sozialbeiträge für Unternehmen und Beschäftigte. Reichen diese nicht, greift der Staat den Sozialkassen unter die Arme. Seine Finanzkraft wird aber bereits von der Last eines überdimensionierten öffentlichen Dienstes und von Zinszahlungen beansprucht. Steuersenkungen sind vor diesem Hintergrund kaum möglich - eine unheilvolle Spirale, die Frankreichs Attraktivität bedroht. Das Land zieht zwar immer noch mehr ausländische Direktinvestitionen an als alle anderen Länder Europas bis auf Großbritannien, doch ist diese Position nach der jüngsten Analyse von Ernst & Young gefährdet. Darin loben internationale Führungskräfte zwar die Standortstärken wie die Telekom-Infrastruktur, das Verkehrsnetz sowie Forschung und Entwicklung. Sie bemängeln aber zunehmend die "traditionellen Handicaps", vor allem die hohen Sozialkosten für die Arbeitgeber.