Krankenkassenbeiträge könnten demnächst um 40 Prozent steigen
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Neue Studie: Unabhängig von den Corona-Belastungen werden die Ausgaben deutscher Krankenkassen mehr steigen als angenommen. Bild: dpa
Alterung, technischer Fortschritt und teure Reformen treiben die Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe. Wie teuer das für Krankenkassen, den Staat und die Versicherten werden könnte, zeigt eine neue Studie, die der F.A.Z. vorliegt.
Die Ausgaben der deutschen Krankenkassen werden einer neuen Untersuchung zufolge in den kommenden Jahren noch stärker aus dem Ruder laufen als befürchtet. Ganz unabhängig von den Corona-Belastungen sind deshalb starke Beitragsanhebungen zu erwarten – oder enorme Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung (WIP), die der F.A.Z. vorliegt.
Je nach Szenario steigen die Beitragssätze bis zum Jahr 2030 von heute 14,6 Prozent auf 15,5 bis 20,6 Prozent. Für 2040 sagt das Institut 16,7 bis 28 Prozent voraus. Dabei wird angenommen, dass der Bundeszuschuss bei den bisher üblichen 14,5 Milliarden Euro im Jahr verharrt. Ganz anders sieht es aus, wenn die Politik, wie versprochen, die Beiträge begrenzen möchte: Die schwarz-rote Regierungskoalition hat eine „Sozialgarantie“ abgegeben, wonach alle Beiträge zu den Sicherungssystemen 40 Prozent vom Bruttolohn bis zur Bemessungsgrenze nicht übersteigen sollen. Um die bisherigen 14,6 Prozent für die Krankenversicherung sowie den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz von 1,3 Prozent nicht zu übersteigen, müsste sich der Bundeszuschuss bis 2030 mindestens auf 30 Milliarden Euro im Jahr verdoppeln, hat das WIP errechnet.
Vermutlich ist aber ein noch viel tieferer Griff in die Steuerkasse nötig: Wenn die Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) künftig im gleichen Maße steigen wie in den vergangenen 20 Jahren, dann werden 2030 rund 83 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt gebraucht, um die Beiträge stabil zu halten. Doch vermutlich sei auch das nicht genug, schreiben die Wissenschaftler.
Zuschüsse in neunfacher Höhe
Denn unter den Gesundheitsministern Hermann Gröhe und Jens Spahn (beide CDU) seien die Ausgaben seit 2013 stark gestiegen. Führe man beispielhaft dafür die Entwicklung von 2019 fort, dann müsse der Steuerzuschuss 2030 sage und schreibe 128 Milliarden Euro ausmachen, das Neunfache der heutigen Summe. Diesen Annahmen zufolge wird der Anteil der Steuerfinanzierung in der GKV von derzeit 6 bis 7 Prozent auf dann 10 bis 29 Prozent steigen.
Den Einsatz solch enormer Haushaltsmittel lehnen die Autoren der Kurzanalyse, Lewe Bahnsen und Frank Wild, aus verschiedenen Gründen ab: Die Finanzierung der GKV werde noch intransparenter als ohnehin schon und mache die Krankenversicherung letztlich vom Finanzminister abhängig. Es entstehe eine „Finanzierungsillusion“, welche die Ausgabenstruktur verzerre und Verantwortlichkeiten verwische. Der Vorteil einer aus Beiträgen getragenen und haushaltspolitisch weitgehend unabhängigen Struktur schwinde, während vor den Versicherten die tatsächlichen Kosten ihres Krankheitsrisikos verschleiert würden.
Den Patienten müsse klar sein, dass sich die Kassen in einer „Schieflage“ befänden und dass es daher eine Diskussion über Beitragssatzerhöhungen oder gar über Leistungskürzungen geben werde. Steuerzuschüsse kaschierten die Misere lediglich, könnten sie aber nicht lösen. Den Privatversicherungen (PKV) ist wichtig, dass ihre Mitglieder als Steuerzahler schon jetzt überproportional an der GKV-Finanzierung beteiligt seien. Höhere Fiskalzuführungen beeinträchtigten zudem den Wettbewerb, da die PKV ihrerseits keine Mittel aus dem Bundesetat erhalte. Volkswirtschaftlicher Schaden entstehe dadurch, dass steigende Staatsausgaben durch Steuererhöhungen aufgefangen werden müssten oder zu anschwellenden Schulden führten.
Als Kostentreiber im Gesundheitswesen haben die Forscher die Alterung der Gesellschaft ausgemacht, den medizinisch-technischen Fortschritt sowie Gröhes und Spahns Reformen, die zu erheblichen Leistungsausweitungen geführt hätten. Tatsächlich können seit Jahren die Beitragszahlungen mit den Kosten nicht mehr Schritt halten. Zwischen 1999 und 2019 wuchsen die Einnahmen je Mitglied um 1,8 Prozent im Jahr, die Ausgaben indes um 3,2 Prozent. In der Gröhe/Spahn-Zeit seit 2013 nahmen die jährlichen Einnahmen um 2,7 Prozent zu und die Ausgaben je Versichertem um 3,7 Prozent.
Als besonders kostspielig erwiesen sich in dieser Zeit das Krankenhausstrukturgesetz, das Hospiz- und Palliativgesetz, das Terminservicegesetz sowie das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Die Untersuchung nimmt eine „ausgabensteigernde Wirkung der Gröhe/Spahn-Gesetzgebung“ von 12 Milliarden Euro im Jahr an. Die gleichzeitig steigenden Einnahmen erklären die Autoren mit der lange andauernden guten Konjunktur und Beschäftigungslage. Diese rosigen Zeiten seien aber vorbei, sie hätten „spätestens mit der Corona-Pandemie ein jähes Ende gefunden“.
2020 musste der Bundeszuschuss schon um 3,5 Milliarden Euro erhöht werden, für 2021 sind 5 Milliarden auf dann 19,5 Milliarden Euro nötig. Zum Vergleich: Bei seiner Einführung 2004 betrug der Zuschuss 1,0 Milliarden Euro. Um die Finanzlücke zu stopfen, werden 2021 zudem 8 Milliarden Euro aus den Kassenreserven entnommen. Auch mussten die Versicherungen ihren Zusatzbeitrag anheben. Die Höhe der gesamten Unterdeckung in der GKV geben das Gesundheitsministerium und das Bundesamt für Soziale Sicherung für 2020 mit 17,6 Milliarden Euro an und für 2021 mit 19,9 Milliarden. Die Pandemie sei daran nur zu einem kleinen Teil schuld, stellt das WIP klar: Sie trage 20 Prozent zu der Lücke bei, im laufenden Jahr 4 Milliarden Euro.
2020 schrieben die 105 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland ein Defizit von 2,65 Milliarden Euro. Das war der schlechteste Wert seit 2003. Ihren Einnahmen von 260 Milliarden Euro standen Ausgaben von fast 262,7 Milliarden Euro gegenüber. Der Gesundheitsfonds, aus dem die Kassen das Geld erhalten, verbuchte ein Minus von fast 3,5 Milliarden Euro. In seiner Liquiditätsreserve liegen 5,9 Milliarden Euro. Die Kassenrücklagen beliefen sich am Jahresende trotz einiger Abflüsse noch immer auf 16,7 Milliarden Euro.