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Interview Jeroen Dijsselbloem : Schnaps und Frauen – jetzt erst recht!

In dem Interview mit Jeroen Dijsselbloem ging es um die Bedeutung des EU-Stabilitätspaktes. Bild: Reuters

Ich kann nicht mein ganzes Geld für Schnaps und Frauen ausgeben und dann um Unterstützung bitten. Dieser Vergleich vom Vorsitzenden der Eurogruppe Dijsselbloem sorgt bei den Südeuropäern für Ärger. Dabei hat er recht.

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          Dem Niederländer Jeroen Dijsselbloem ist es zu verdanken, dass in Europa derzeit leidenschaftlich über den unterschiedlichen Alkoholkonsum von EU-Bürgern diskutiert wird. Die Griechen zum Beispiel trinken wesentlich weniger als gedacht, während die Portugiesen bechern, wie es wohl gemeinhin von ihnen erwartet wird. Diese Erkenntnisse haben in diesen Tagen Nachrichtenwert wegen einer Äußerung des Vorsitzenden der Eurogruppe, Dijsselbloem, in einem Interview mit der F.A.Z.

          Überraschenderweise ging es dabei um die nüchterne Frage, wie wichtig der EU-Stabilitätspakt in Zeiten des Laissez-faire überhaupt ist. Seine Antwort: „extrem wichtig“, weil er innerhalb der Eurozone vertrauensbildend sei. Wer Solidarität einfordere, habe auch Pflichten. An diesem Punkt wechselt man als Kommentator besser in die wörtliche Rede, denn nun bemüht Dijsselbloem ein heikles Gleichnis: „Ich kann nicht mein ganzes Geld für Schnaps und Frauen ausgeben und anschließend Sie um Ihre Unterstützung bitten.“

          Es folgt ein überzogener Shitstorm

          Diesen Satz kann man auf verschiedene Weise missverstehen. Die naheliegendste wäre gewesen, ihn wörtlich zu nehmen. Dann hätte der Politiker unaufgefordert versichert, nicht sein ganzes Geld zu verprassen, um dem F.A.Z.-Kollegen später nicht auf der Tasche zu liegen. Das wäre zwar anständig, hätte aber niemanden interessiert. Deshalb entschied man sich insbesondere im südlichen Teil Europas für eine packendere Missinterpretation, dass alle Südländer den ganzen Tag nichts anderes täten, als fremder Leute Geld ausschließlich in Hochprozentiges und Prostituierte zu stecken.

          Das konnte zu Recht als „rassistisch, fremdenfeindlich und sexistisch“ gegeißelt werden, was praktischerweise alle Bestandteile enthält, die ein handfester Skandal heute braucht. Die Kalauer über den paneuropäischen Alkoholkonsum gehörten noch zu den humorvollsten Reaktionen in dem ansonsten absolut überzogenen „Shitstorm“.

          Auch andere Gleichnisse bieten sich an

          Dabei könnte man, nüchtern betrachtet, auch einmal lobend erwähnen, wie Dijsselbloem ein sozialökonomisches Theorem mit schwungvollen Worten auf eine verständliche Formel brachte. Die Rede ist von dem „Rotten Kid Theorem“ des amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Gary Becker, der schon 1974 auf 34 schreibmaschinenbeschriebenen Seiten unter anderem darüber sinnierte, was passiert, wenn ein gütiges Familienoberhaupt seinen Kindern Zuwendungen macht.

          Der Fokus lag insbesondere bei den Reaktionen, die das beim „rotten kid“ auslöst, also beim – höflich übersetzt – eigensüchtigen Kind. Die Nennung dieser Theorem, so sei an dieser Stelle aufrichtig versichert, ist nur im übertragenen Sinn gemeint. Natürlich sind weder Griechen, Spanier oder Portugiesen tatsächlich verzogene Gören. Aber so ist das mit Gleichnissen.

          Dijsselbloem hat Recht

          Diese Überlegungen zum „Rotten Kid Theorem“ wurden vielfach weiterentwickelt und mündeten auch in folgendem Szenario: Ein Vater, der seinen Sohn liebt, wird diesen aus extremen finanziellen Notlagen befreien. Der Sohn aber, jenes eigensüchtige Kind, könnte diese Großzügigkeit nun systematisch ausbeuten, womit ein zweites, ebenfalls bestens bekanntes Phänomen ins Spiel kommt: das Samariter-Dilemma. Wer Hilfe bekommt, hat die Wahl, sich aus der Notlage zu befreien oder sich dauerhaft auf der Unterstützung auszuruhen. Das Dilemma ist, dass ihm beides nützt.

          Das dürfte vielen bekannt vorkommen, ist das Prinzip doch seit Generationen festgehalten in der Formel: „Gib ihm den kleinen Finger, dann nimmt er die Hand.“ Das diese Erkenntnis auch in anderen Nationen gereift ist, sieht man an der englischen Entsprechung der Redewendung, die ihre Wurzeln im Jahr 1546 hat: „Give him an inch and he will take an ell“, schwadroniert der Engländer über die Maßlosigkeit, mit der Hilfe ausgebeutet werden kann. Da ist es natürlich volksnäher, Schnaps und Frauen zu bemühen, aber auch gefährlicher. Nur eins ändert das nicht: Recht hat er, der Dijsselbloem.

          Corinna Budras
          Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.

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