Kommentar : Taugt das BIP noch was?
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Wenn die Realität mit den Kennzahlen nicht mehr übereinstimmt, kommen Zweifel auf. Bild: dpa
3D-Druck, Internet, Industrie 4.0: Wegen des technischen Fortschritts spiegeln viele Wirtschaftszahlen die Wirklichkeit immer schlechter. Was folgt daraus?
Kennzahlen sind für Ökonomen ein wichtiges Arbeitsmittel. Mit Kennzahlen werden Entwicklungen und Zustände beschrieben. Aufgrund von Kennzahlen werden Entscheidungen getroffen, von der Politik über Verbände und Unternehmen bis zum einzelnen Haushalt. Wenn aber die Realität offensichtlich mit den Kennzahlen nicht mehr übereinstimmt, kommen Zweifel auf. Diese Zweifel häufen sich: Das wirtschaftliche Wachstum sei zu gering, heißt es. In Deutschland gebe es eine Investitionslücke, wird behauptet. Die Digitalisierung lasse die versprochene Produktivitätssteigerung vermissen, wird geraunt. Und immer wird die entsprechende Behauptung mit erhobenen Zahlen belegt, die aber immer häufiger die beobachtbare Wirklichkeit offensichtlich nicht widerspiegeln.
Es wird immer deutlicher, dass im Bruttoinlandsprodukt nicht mehr die Leistungen einer Volkswirtschaft gemessen werden. Wer sich früher bilden wollte, kaufte ein Buch oder einen Brockhaus für 3000 Euro. Heute bildet sich die Mehrheit der Menschen, indem sie bei Wikipedia nachlesen – umsonst. Damit schrumpfen der Umsatz und das Bruttoinlandsprodukt, obwohl mehr Menschen Zugang zu Wissen haben als jemals zuvor. Ähnlich ist es mit der Musik. Früher musste man eine Schallplatte oder eine CD kaufen und das Bruttoinlandsprodukt steigern. Heute wird die Musik aus dem Internet gestreamt – zu einem minimalen oder häufig zu gar keinem Preis, weil sich die Anbieter über Werbung finanzieren.
Wenn früher der südamerikanische Kunde einer deutschen Maschinenfabrik ein Ersatzteil brauchte, wurde es vom Hersteller produziert, einer Spedition übergeben und nach Lateinamerika verschifft. Das erhöhte das Bruttoinlandsprodukt. Heute sendet der deutsche Maschinenbauer seinem Kunden in Südamerika eine digitale Datei, und der Kunde druckt sich daraufhin das Teil vor Ort im 3D-Druck aus. Ein weiteres Beispiel: Seit es Navigationssysteme gibt, fällt der jährliche Kauf eines Straßenatlas weg. Alle genannten Fälle steigern den Wohlstand – und mindern das Inlandsprodukt.
Die alte Regel verliert
Alle Beispiele führen auch zu einem zweiten Phänomen. Wer ins Internet gehen will, braucht einen Computer oder Laptop, wer ein Navigationssystem nutzen will, braucht ein solches im Auto. Die laufenden Ausgaben danach sind sehr gering, und teilweise gehen die Produktionskosten sogar gegen null. Je digitaler die Welt funktioniert, umso geringer sind die Personalkosten, und derzeit fallen für die Anfangsinvestitionen nicht einmal Zinsen in relevanter Höhe an.
Bei derart niedrigen Grenzkosten verliert die alte Regel, wonach sinkende Preisen immer mehr Grenzanbieter aus dem Markt werfen, ihre Bedeutung. Das zeigt das Öl: Der Preis ist um 70 Prozent gesunken, aus dem Markt ist kaum ein Anbieter verschwunden. Dass trotz Geldschwemme durch die Zentralbank die Preise nicht steigen, könnte damit zusammenhängen, dass die Preise stärker fallen – und das oft trotz steigender Nachfrage. Wie fallende Preise wirkt es, wenn neue Dienstleistungen kaum Geld kosten. Der Aufwand, einen Konzern stichprobenartig oder künftig dank der Digitalisierung zu 100 Prozent zu prüfen, sei gering, heißt es in der Wirtschaftsprüferpraxis. Der Fortschritt ist dennoch gewaltig.
Wirtschaftsprüfern fällt auch auf, dass bei vielen Unternehmen die Investitionen stagnieren, obwohl sich die Unternehmen auf die neue Welt des Internets der Dinge, der Energiewende oder von Industrie 4.0 vorbereiten. Diese Vorbereitungen schlagen sich aber nicht in neuen Hallen und Maschinen nieder, sondern führen zu mehr Programmierern, zu mehr Personal, zu Umstrukturierungen. Die Investitionen in die digitale Welt werden zum großen Teil über die laufenden Kosten abgewickelt.
Große Herausforderung für Forschung und Praxis
Es steigen die GuV-Investitionen, die über die Gewinn-und-Verlust-Rechnung verbucht werden, und es sinken die Abschreibungsinvestitionen, die über eine Aktivierung in der Bilanz erfasst und abgeschrieben werden. Der klassische Investitionsbegriff erfasst aber vor allem Abschreibungsinvestitionen. Wenn deren Bedeutung sinkt, sagt die Kennzahl Investition nichts mehr aus. Sie bedarf der Überprüfung.
Auch die Produktivität sinkt zunächst, wenn man in Menschen statt in Beton und Stahl investiert. Die erwarteten Produktivitätserfolge zeigen sich dagegen erst später. Das könnte ein Grund sein, warum die Produktivität trotz zunehmender Digitalisierung nicht so schnell steigt wie erwartet. Ein bekanntes Problem bereiten auch die niedrigen Zinsen. Unternehmen sind es gewohnt, künftige Belastungen auf den heutigen Wert abzuzinsen. Das führtbei einem Zinssatz von Null dazu, dass die gesamte künftige Verpflichtung heute zurückzustellen ist. Ein negativer Zins führt über die Abzinsungsformel zu keinem sinnvoll interpretierbaren Ergebnis mehr. Sie ist in diesem Fall nicht anwendbar.
Viele Kennziffern scheinen heute die Realität nicht mehr hinreichend gut einzufangen. Das ist eine große Herausforderung für die Praxis wie auch für die Forschung. Denn ohne Kennziffern wird es auch künftig nicht gehen.