F.A.Z. exklusiv : Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik!
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Ingo Kramer ist Präsident der deutschen Arbeitgeber. Bild: dpa
In diesem Jahr feiern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften 100 Jahre Tarifautonomie. Damit sie eine Zukunft hat, muss sich einiges ändern. Ein Gastbeitrag.
In diesem Jahr feiern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften 100 Jahre Tarifautonomie. Der Rückblick lädt durchaus zum Feiern ein. Die Tarifautonomie hat maßgeblich beigetragen zur Entwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft, unserer volkswirtschaftlichen Leistung und unserer den Zusammenhalt stärkenden Sozialsysteme.
Der Blick in die Zukunft zeigt hingegen viel Arbeit. Nur noch 15 Prozent der Beschäftigten gehören einer Gewerkschaft an. Noch 30 Prozent der Unternehmen unterliegen der unmittelbaren Tarifbindung. Da sich viele Unternehmen an Tarifverträgen orientieren, sind zwar für 75 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland Tarifverträge Grundlage der Arbeitsbedingungen. Aber die Entwicklung ist rückläufig.
Wie für Arbeitnehmer in den Gewerkschaften ist es auch für Unternehmen nicht mehr eine Selbstverständlichkeit, Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu werden und einen Flächentarifvertrag anzuwenden. Die Ursachen sind vielschichtig: die steigende internationale Arbeitsteilung der Wirtschaft, der höhere innovationsgetriebene Anpassungsdruck, junge Unternehmen mit neuen Geschäftsmodellen, der Wunsch nach spezifischen Betriebslösungen und individuellen Regelungswünschen der Arbeitnehmer, die Komplexität gewachsener Tarifverträge und die mangelnde Flexibilität von Tarifverträgen.
Stärkung erstrebenswert
Noch sind die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften in der Situation, die Weiterentwicklung der Tarifautonomie selbst in die Hand zu nehmen. Das sollten sie auch tun. Ein Tarifvertrag schafft Planungssicherheit und Vorhersehbarkeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Er kann branchenspezifische Herausforderungen besser aufgreifen, als das gesetzliche pauschale Regelungen können. Gerade in Zeiten einer durch Digitalisierung und Globalisierung unsicheren Welt sind das große Vorteile.
Eine Stärkung ist also erstrebenswert. Nur sollte sie zukunftsorientiert gestaltet werden, ohne die Fortschreibung vergangener Rezepturen. Sollten wir diese Chance verstreichen lassen, sehe ich das System der Tarifautonomie immer weiter unter Druck geraten. Schon heute drängt die Politik mit allen Nachteilen betriebsferner Entscheidungen in Bereiche, die die Sozialpartner regeln können. Dieses betrifft dann alle, auch nicht tarifgebundene Unternehmen. Ich sehe drei Handlungsfelder für die Sozialpartner, um die Gestaltungskraft durch Tarifautonomie auch bei allen Änderungsnotwendigkeiten selbst in der Hand zu behalten:
Erstens: Tarifverträge brauchen mehr Öffnungsklauseln. Es muss verstärkt möglich sein, einzelne Bestandteile von Tarifverträgen – zum Beispiel Regelungen zur Arbeitszeit – auf betrieblicher Ebene anders zu regeln. Viel zu oft sind Tarifverträge nach dem „Alles oder nichts“-Prinzip gestrickt. Kleine, mittlere und große Unternehmen – egal in welcher wirtschaftlichen Lage sie sind – müssen mit dem Ergebnis von Tarifverhandlungen klarkommen. Das funktioniert immer weniger. In den zurückliegenden Jahren waren tarifvertragliche Öffnungsklauseln schon auf einem guten Weg. In jüngster Zeit versperren sich die Gewerkschaften diesem Instrument aber zunehmend – und sei es durch Zentralisierung der betriebsnotwendigen Entscheidung. Das ist in meinen Augen ein Fehler. Öffnungsklauseln und betriebliche Gestaltungsspielräume sind das A und O des Tarifvertrags der Zukunft. Ohne diese Öffnung werden sich immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung zurückziehen.
Zweitens: Tarifverträge modular denken. Heutige Tarifverträge sind vielfach zu komplex geworden. Nicht selten verstehen Unternehmen und Arbeitnehmer die Tarifverträge der eigenen Branche nicht ohne Rechtsberatung. Unternehmen hiermit für die Tarifbindung zu gewinnen ist fast unmöglich. Im Gegenteil: Es schreckt Unternehmen ab. Meine Erfahrung aus vielen Gesprächen mit Unternehmern zeigt mir, dass nicht tarifgebundene Arbeitgeber gern Module wie den Entgelttarifvertrag übernehmen würden, aber zum Beispiel insbesondere vor strengen betriebsfernen Arbeitszeitregularien des Manteltarifvertrags zurückschrecken. Hier müssen wir eine Bereitschaft der Gewerkschaften gewinnen, für diese Unternehmen und ihre Beschäftigten auch einzelne Teile der Tarifverträge zur Verfügung zu stellen. Motto: besser Teile eines Tarifvertrages als gar kein Tarifvertrag. Ein solches Modell kann eine „modulare Tarifbindung“ sein. Arbeitgeber, die bislang nicht in der Tarifbindung sind, und Gewerkschaften sollen dabei aus einem Gesamtpaket eines Tarifwerks Module auswählen und diese für den Betrieb übernehmen können.
Wenn uns das gelingt und Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ihre Tarifverträge flexibilisieren und Module zur Verfügung stellen, bin ich zuversichtlich, dass die Tarifautonomie wieder an Akzeptanz gewinnt. Gelingt das nicht, wird die Tarifbindung weiter abnehmen und die Tarifautonomie Schaden nehmen. Dann müssten wir gemeinsam über andere Wege nachdenken.
Drittens: Dazu könnte gehören, dass nicht nur Arbeitgeber und Gewerkschaft, sondern auch Betriebsräte und Arbeitgeber auf der Grundlage von Tarifverträgen solche Module übernehmen können. Bei dieser Lösung geht es nicht darum, dass Betriebsräte Tarifverhandlungen führen. Es geht darum, dass auf der betrieblichen Ebene Arbeitgeber und Betriebsrat die modulare Anwendung bestehender Tarifverträge ohne deren Änderung gemeinsam beschließen können. Betriebsräte und Arbeitgeber sollen also die Geltung von einzelnen Modulen aus Tarifverträgen vereinbaren dürfen, ohne diese abzuwandeln. Durch Betriebsvereinbarungen wird dann zum Beispiel der Entgeltrahmen übernommen, und der Betrieb gilt als tarifgebunden, auch wenn er nicht alle Regelungen der gesamten Tarifbreite übernommen hat.
Die Herausforderungen an die Tarifautonomie werden in den kommenden Jahren zunehmen. Insbesondere die Digitalisierung stellt die Unternehmen vor Anpassungsprozesse, die sie meistern müssen, wenn wir Wachstum und Beschäftigung in Deutschland auf hohem Niveau halten wollen. Ich hoffe, dass der Weckruf einer sinkenden Tarifbindung die Bereitschaft beider Sozialpartner steigert, neue Wege einzuschlagen und dadurch die Tarifbindung zu verbreitern.
„Wir sind bereit“
Tarifbindung muss von den Unternehmen und den Arbeitnehmern gemeinsam als vorteilhaft erkannt werden können. Die Delegation der Verhandlungsdurchführung an Arbeitgeberverband und Gewerkschaft allein wird dafür zukünftig nicht reichen. Betriebsnahe und betriebs-verkraftbare Tarifverträge werden die Voraussetzung sein, Individualisierung und Flexibilisierung werden den Anpassungsdruck abfedern müssen.
Die Gewerkschaften müssen erkennen, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der Tarifbindung haben. Das ist nicht nur Angelegenheit der Arbeitgeberverbände. Auch Streiktage bei den tarifgebundenen Unternehmen während der Friedenspflicht oder der Verhandlungsphase sind keine Werbung für die Tarifbindung. Wir sollten das Jubiläum als Startschuss einer Debatte der Sozialpartner über die Zukunft der Tarifautonomie nutzen. Die Arbeitgeberverbände stehen hierfür bereit.
Ingo Kramer ist Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin.