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Trotz Corona : Indiens Wanderarbeiter kehren an den Arbeitsplatz zurück

Indische Arbeitsmigranten kommen am Bahnhof der Millionenstadt Ahmedabad an. Bild: Reuters

Zu Beginn der Pandemie sind Millionen Arbeiter in ihre Dörfer geflüchtet. Nun müssen sie trotz hoher Infektionszahlen in die Metropolen zurück. Nur dort können sie ihren Lebensunterhalt verdienen – und viel liegen gebliebene Arbeit wartet auf sie.

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          Sunil Ravana ist geblieben. Er hat die erste große Corona-Welle abgewettert, überlebt. Der Touristenführer war zwar über Nacht ohne Einkommen, ein paar Ersparnisse, weniger Essen und geliehenes Geld aber hielten ihn in Bombay über Wasser. Viele seiner Freunde sind gegangen. „Die ersten kommen jetzt zurück“, sagt Ravana. „Denn sie müssen hier leben, um Geld zu verdienen.“

          Christoph Hein
          Wirtschaftskorrespondent für Südasien/Pazifik mit Sitz in Singapur.

          Geschätzt zehn Millionen Menschen hatten sich im Frühjahr auf eine lange Reise gemacht. Zu Fuß, wenn möglich mit Bussen, später mit „Shramik“-Zügen, waren die Tagelöhner aus den überfüllten Städten vor dem Virus geflohen. Denn nach der radikalen Ausgangssperre, die Ministerpräsident Narendra Modi am 24. März über Nacht verhängte, hatten sie keine Arbeit mehr und ohne Arbeit auch kein Einkommen. Ihnen blieb nur der Weg zurück in die Dörfer, um sich dort zu verdingen oder wenigstens mietfrei bei ihren Familien unterkommen zu können.

          Bleiben aber können sie dort nicht. Denn die Felder bieten trotz der guten Ernte in diesem Jahr nicht genug Arbeit, und die Familien brauchen die Rupien, die die Arbeitsmigranten in den Jahren zuvor aus der Stadt in die Heimat gesandt hatten. In den ersten 15 Tagen nach Beginn des Lockdowns seien die Überweisungen der Arbeitsmigranten in die Heimatdörfer um 90 Prozent gefallen, sagt Rishi Gupta, Chef des Geldtransfer-Unternehmens Fino Paytech in Bombay. Die illegalen privaten Geldverleiher, die auf den Dörfern 6 Prozent Zinsen in der Woche verlangen, verbuchten in den vergangenen Wochen dagegen blühende Geschäfte. Denn die Familien mussten den mittellosen Heimkehrern allein schon für ihre oft tage-, manchmal wochenlangen Reisen Geld senden.

          Arbeitsmigranten im eigenen Land

          Durchfüttern kann kaum eine indische Familie einen der jungen Rückkehrer. Staatliche Hilfsprogramme wie das Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme überbrücken allenfalls die ärgste Not: 202 Rupien (2,37 Euro) aus der Steuerkasse bekommen die Menschen auf dem Land für einen Tag Arbeit, hundert Tage im Jahr oder umgerechnet 237 Euro sind ihnen garantiert. Doch selbst hier lauern Herausforderungen: Ausgebildete Arbeiter, die – ohne Verträge – in Fabriken geschuftet hatten, wollen nun keine Feldarbeit verrichten. Auch die Kasten spielten hier eine Rolle, warnt Amitabh Kundu, Professor am Information and Research System for Developing Countries. Gerade hat Modi den Geflohenen kostenlose Nahrung bis November versprochen.

          „Gesellschaftlich mag die Rückkehr in die Heimat unerwünscht gewesen sein, aber für die einzelnen Migranten war sie eine rationale Entscheidung, die ihre ökonomische Verletzlichkeit widerspiegelt und eine tiefe Furcht vor ihrer Unfähigkeit, mit den drohenden Unsicherheiten umgehen zu können“, sagt Dipinder S. Randhawa. Der Ökonom der Rajaratnam School for International Studies in Singapur betont im Gespräch mit der F.A.Z., dass 90 Prozent der indischen Arbeitskräfte außerhalb der Landwirtschaft im informellen Sektor arbeiten: „Indien hat das größte Tagelöhner-Heer der Welt.“ Viele von ihnen seien durch die Behandlung während der Corona-Krise traumatisiert – weil sie teils Hunderte Kilometer gehen mussten, Hunger litten, und einige sogar mit Chlor abgesprüht wurden, weil sie als infiziert galten.

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