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Messebranche in der Krise : Hoffen auf vergangene Zeiten

Geschäftskunden haben kein Problem damit, Stunden in Messehallen zu verbringen. Bild: dpa

Auch nach zwei Jahren Zwangspause können die Messegesellschaften keine digitale Strategie präsentieren. Dabei deutet alles darauf hin, dass ihr Präsenzgeschäft nie mehr so stark werden wird wie zuvor.

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          Seit zwei Jahren stecken die Messegesellschaften in der größten Krise der Neuzeit. Und es sieht nicht so aus, als würden sie sich vollständig davon erholen können. Nur wenige Tage nachdem die Lockerungen in der Corona-Pandemie verkündet worden waren, griff Russland die Ukraine an. Die globalen Verwerfungen, die die Invasion hervorgerufen hat, erschüttern die Geschäftsgrundlage der Branche. Es ist eine weitere Megakrise neben der Pandemie und dem Klimawandel, die zeigt, worauf die Messegesellschaften schon längst hätten setzen müssen: ihre Digitalisierung.

          Es lief doch auch ohne, sagt ein Messechef, die virtuelle Welt entwickle sich so schnell, da hätte man sich ja ständig updaten müssen, sagt ein anderer, die Erlösmöglichkeiten seien sehr beschränkt, versucht sich ein Dritter zu erklären. „Außerdem werden die großen Aussteller online nicht mehrere 100. 000 Euro ausgeben. Das haben sie bei Messeständen ohne großes Zögern gemacht.“

          Rein digitale Veranstaltungen

          Tatsächlich investieren die wichtigsten Aussteller ohne großes Zögern auch in virtuelle Veranstaltungen mehrere 100. 000 Euro. Sie machen es aber im Moment nicht in Zusammenarbeit mit den Messegesellschaften. Siemens zum Beispiel plant auch nach Abflachen der Pandemie Dutzende rein digitale Veranstaltungen im Jahr. Tue sich nicht bald mehr bei den Messegesellschaften, heißt es von dort, werde man sich gut überlegen, auf welchen Messen man in Zukunft noch präsent sein werde.

          In der Tat fragt man sich, was eine Branche mit mehr als 4 Milliarden Euro Umsatz vor der Pandemie seit 2019 gemacht hat. Bisher sehen sich die Messegesellschaften in der Digitalisierung vor allem als Beobachter. Sie reagieren statt zu agieren. Martin Paul Fritze, der an der Universität zu Köln zur Messewirtschaft forscht, spricht von einer „lange Zeit nachfrageverwöhnten Branche, die in der Digitalisierung einen Innovationsstau vor sich her schiebt“. Es gibt einige wenige Beispiele für erste ehrenvolle und teilweise erfolgreiche Versuche, beliebte Messen wie die Gamescom ins Virtuelle zu verlagern – aber wenn Messechefs im Jahr 2022 auf die Frage nach ihrer Digitalstrategie sagen: „Wir haben jetzt ein Studio gebaut und einen Regisseur angeheuert“, mit Hinweisen auf die seit 1995 bestehende Website antworten oder gar gestehen, dass man erst noch eine Digitalstrategie entwickeln müsse, dann liegt einiges im Argen.

          Aussteller und Geschäftskunden werden zwar auch in Zukunft weiter auf Messen gehen. Aber im Moment deutet alles darauf hin, dass es viel weniger sein werden als vor der Pandemie. Nach einer vorübergehenden Post-Corona-Euphorie werde sich eine etwa dreißigprozentige Überkapazität auf den deutschen Messegeländen offenbaren, prognostiziert der Wirtschaftswissenschaftler Manfred Kirchgeorg. Wenn die Messegesellschaften nicht schrumpfen wollen, müssen sie moderne Infrastruktur zur Verfügung stellen. Im Moment berichten Aussteller immer wieder davon, dass sie ihre Stände vor Ort nicht wie geplant verwirklichen können, zum Beispiel weil die Internetverbindung auf dem Messegelände instabil ist.

          Was lässt sich ins Virtuelle übertragen?

          Die großen Aussteller haben schon vor den Messegesellschaften begriffen, was die Digitalisierung des Veranstaltungsgeschäfts so kompliziert macht: Nur wenig lässt sich vom Physischen direkt ins Virtuelle übertragen. Digital müssen die Messen von Grund auf neu gedacht werden. Es stört zwar kaum einen Geschäftskunden, acht Stunden am Stück in den Hallen der Frankfurter Messe zu verbringen. Aber acht Stunden vor einem Bildschirm zu sitzen, um eine virtuelle Veranstaltung zum selben Thema zu verfolgen – dazu ist niemand bereit.

          Angesichts der Schwere der Aufgabe ist es nicht verwunderlich, dass die Messegesellschaften sich nun, wo es mit ihrem Kerngeschäft wieder losgehen kann, wieder vor allem auf die Präsenzmessen konzentrieren wollen. Aber so drohen sie den Wendepunkt zu verpassen und den Bereich der virtuellen Veranstaltungen an Internetkonzerne zu verlieren.

          Noch wären sie in einem solchen Konkurrenzkampf nicht chancenlos. Viele bedeutende Messen finden schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten statt. Die Besucherdaten, die die Messegesellschaften in all der Zeit sammeln konnten, nennen Wissenschaftler wie Martin Fritze von der Universität zu Köln „unglaubliche Schätze“. Bis jetzt liegen sie meistens noch unbenutzt auf den Servern. Würden sie professionell gemanagt, könnten sie den Messegesellschaften auch im digitalen Zeitalter eine verlässliche Einnahmequelle bieten. Siemens hat schon sein Interesse bekundet.

          Sarah Obertreis
          Redakteurin im Ressort „Gesellschaft & Stil“.

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