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Hanks Welt : Kalkül schlägt Kompetenz

Karl Lauterbach (SPD) ist Koalitionsabgeordneter, Oppositionspolitiker, Epidemiologe und Regierungsberater in einer Person. Bild: Ben Knabe

Seit Beginn der Pandemie wimmelt es von Experten. Doch als Bestätiger der herrschenden Politik brauchen wir Wissenschaftler nicht.

          4 Min.

          Am 4. Februar 2021 veröffentlicht der Deutsche Ethikrat eine Ad-hoc-Empfehlung unter der Überschrift: „Besondere Regeln für Geimpfte?“ Es ist die Zeit, als die Impfkampagne in Fahrt kommt, wenn auch außerordentlich schleppend. Der Rat lehnt es ab, doppelt Geimpften die ihnen immer schon zustehenden Freiheitsrechte zu garantieren. Der Titel des Papiers ist verräterisch: Als ob es um „besondere“ Regeln ginge, eine Art Geschenk von der Obrigkeit! Die Freiheit eines Bürgers ist der Normalfall im liberalen Staat, nicht die Ausnahme. Es sei zu befürchten, „dass ein Teil der Bevölkerung eine individuelle Rücknahme staatlicher Freiheitsbeschränkungen nur für bereits Geimpfte als ungerecht empfinde“, heißt es in dem Papier. Dies wiederum könnte „die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger sowie die Bereitschaft zur Regelbefolgung mindern“.

          Rainer Hank
          Freier Autor in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Genau dieses Argument einer drohenden „Zweiklassengesellschaft“ war im vergangenen Winter von Politikern aller Parteien (bis zu den „freien“ Demokraten) zu hören. Damals gab es eine riesige Angst vor den Impfgegnern, die in der Bevorzugung der Geimpften einen impliziten Impfzwang sehen könnten. Dass Politiker diese Angst haben, ist nachvollziehbar, sie wollen auch von Impfgegnern gewählt werden. Aber der Ethikrat verkauft ein pures „Gefühl der Ungerechtigkeit“ als ein philosophisches Argument. Das hätten sie keinem Studenten im Proseminar durchgehen lassen. Warum benutzen sie es hier? Weil es im Februar 2021 einen öffentlichen Kladderadatsch gegeben hätte, hätten die Ethiker für sofortige Bürgerfreiheit votiert. Heute diskutiert der Ethikrat über eine Impfpflicht. Wie es halt gerade passt.

          Regierungsmaßnahmen „wissenschaftlich“ bestätigt

          Der Nationale Ethikrat ist ein von der Bundesregierung eingesetztes Beratungsgremium. Seine Mitglieder werden von Bundestag und Bundesregierung vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten ernannt. Die Unabhängigkeit der Mitglieder soll durch das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft in Parlament oder Regierung sichergestellt werden. Das ändert nichts daran, dass solche Empfehlungen den Sachverhalt der Kumpanei erfüllen. Ziel sei nicht Rat von Experten, sondern die „wissenschaftliche“ Bestätigung von Regierungsmaßnahmen gegenüber der Öffentlichkeit, sagt der Konstanzer Ökonom Friedrich Breyer. Eine wissenschaftsgläubige Welt braucht Legitimationsgremien für politisches Handeln.

          Seit Pandemiebeginn wimmelt es von Experten. Der rührigste ist Karl Lauterbach, eine Art Ein-Mann-Thinktank, der Koalitionsabgeordneter, Oppositionspolitiker, Epidemiologe und Regierungsberater in einer Person ist. Als Regel gilt: Je näher ein Berater in regierungsoffizielle Räte eingebunden ist, umso affirmativer zur Politik fällt sein Rat aus.

          Die Kumpanei des Ethikrats hat System. Natürlich beruft die Regierung in solche Gremien nur Experten, die öffentlichen Rückhalt ihrer Positionen erwarten lassen. Die Tatsache, dass „marktliberale“ Haltungen gerade außer Mode sind, kostete dem Freiburger VWL-Professor und Direktor des Walter Eucken Instituts, Lars Feld, die Wiederberufung in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Fünf Weise“).

          Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2008 von Bund und Ländern errichtet, formell weisungsfrei, aber mit öffentlichem Auftrag, hat im Dezember eine Empfehlung veröffentlicht, in der ein harter Lockdown „aus wissenschaftlicher Sicht“ als „unbedingt notwendig“ bezeichnet wurde. Das Papier wurde vom Chef des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler unterzeichnet, dessen RKI eine untergeordnete Bundesbehörde ist. Wieler und Kollegen empfehlen, gestützt auf Wissenschaftsexpertise, als alternativlos, was die Regierung hören will und Wieler als RKI-Chef als vernünftig loben darf. „Kalkül schlägt Kompetenz“, meinte dazu der St. Galler Historiker Caspar Hirschi in der F.A.Z. Der Bonner Juraprofessor Klaus Ferdinand Gärditz ergänzte: „Die scheinbare Nähe zur Macht verführt, selbst als deren nützliche Büttel.“

          Die Wirtschaftsweisen sind noch ein relativ unabhängiges Gremium im Vergleich etwa zum Ethikrat. Ziemlich unabhängig sind auch die Wissenschaftlichen Beiräte beim Wirtschafts- und Finanzministerium. Sie holen sich ihre Mitglieder eigenständig und sind frei in Themenwahl und Gestaltung ihrer Gutachten. Das schützt nicht davor, Blödsinn zu verzapfen, wofür der Unternehmerbeirat „Junge digitale Wirtschaft“ steht, der kürzlich allen Ernstes dafür plädierte, Presseberichte zu zensieren, wenn sie negativ über Börsengänge von Start-ups berichten.

          Mit weisem Gutachterton

          Der Bonner Ökonom Moritz Schularick attestiert in seinem gerade erschienenen Buch „Der entzauberte Staat“ generell solchen Gremien eine „überholte Vorstellung von unabhängigem Expertentum“ mit ihrer Vorstellung von „Distanz zu politischen Entscheidungsträgern“. Statt Wissenschaft „dynamisch in Entscheidungsprozesse einzubinden“, herrsche die Idee vor, dass Wissenschaftler „aus sicherer Entfernung in einem weisen Gutachterton sagen, was grundsätzlich richtig ist“.

          Dass die Beiräte unverbindlich das langweilig Richtige oder ausgemachten Quatsch schreiben, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, stimmt indes etwa für das jüngste Gutachten der Berater des Wirtschaftsministers nicht: Dort wurde mit guten Argumenten für eine Rente mit 68 plädiert – zum Verdruss von Minister Altmaier. Keine Partei will den Bürgern eine längere Lebensarbeitszeit zumuten. Gut, dass die Wissenschaft dagegenhält.

          Will Schularick im Ernst „Distanzlosigkeit“ der Beratung? Er spricht von „dynamischer Einbindung in Entscheidungsprozesse“. Er sagt, Politiker sollen sich nicht vor der Verantwortung drücken. Sie sollen die Besten holen, die auf dem neuesten Stand der Forschung sind und in Krisen schnell und flexibel das Richtige raten, anstatt ellenlange Gutachten zu verfassen.

          Nur wer definiert, was der „neueste Stand der Forschung“ ist? Viele Wissenschaftler billigten sich selbst eine fachliche und moralische Position zu, die sie sonst niemandem zugestünden, meinte der früh verstorbene St. Galler Ökonom Gebhard Kirchgässner, dessen Forschungsprojekt zur Politökonomie wirtschaftspolitischer Beratung leider Fragment geblieben ist. Wissenschaftler und Politiker halten sich oft für „wohlwollende Diktatoren“, die nur das Gemeinwohl verfolgen – hehre Wesen ohne eigene Machtinteressen. In der Pandemie wurde mit diesem Bild vieles verkleistert. Hoffen wir, dass diese Art von Expertokratie nicht zur Blaupause der Klimapolitik missbraucht wird. Besser als auf „dynamische Einbindung“ sollte man auf kritische Distanz und harten Wettbewerb der Fachleute setzen. Gefragt wären institutionalisierte (Selbst-)Kritik der Räte und Mut, Unbequemes und Neues in die Debatte zu speisen. Als Bestätiger herrschender Politik brauchen wir sie nicht.

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