Erdbeben trifft Anleger : Handel an Börse Istanbul nach Milliardenverlust ausgesetzt
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Handelssaal an der Börse in Istanbul: Das Erdbeben hat heftige Kursbewegungen ausgelöst. Bild: Bloomberg
Das Beben schockt den Finanzmarkt. Ein Kursrutsch vernichtet Milliarden, die Börse bleibt geschlossen, einige Geschäfte wurden storniert. Anlegern reicht das nicht.
Nach starken Kursverlusten als Folge des Erdbebens an der türkisch-syrischen Grenzregion bleibt die Wertpapierbörse in Istanbul weiter geschlossen. Der am Mittwoch eingestellte Handel mit türkischen Aktien, Futures und Optionskontrakten solle am 15. Februar, Mittwoch nächster Woche, wieder aufgenommen werden, teilte die Borsa Istanbul mit.
Nach der ersten Unterbrechung des Handels binnen 24 Jahren, 1999 nach einem schweren Erdbeben nahe Istanbul, kündigte die Geschäftsleitung zudem an, alle Geschäfte rückabzuwickeln, die die am Mittwochvormittag vor der Einstellung des Geschäftes getätigt worden waren. Das geringe Transaktionsvolumen habe eine effiziente Preisbildung unmöglich gemacht.
Zuvor hatten Computerprogramme den Absturz der Indizes der wichtigsten 100 Werte, den BIST 100, bei 7 Prozent gestoppt. Gegenüber Freitag vor einer Woche betrug der Abschlag 16 Prozent, nach der Stornierung der Geschäfte vom Mittwoch betrug der Verlust immer noch 9,9 Prozent. Schon am Dienstag hatte das Handelsvolumen mit 2,24 Milliarden Abschlüssen nach zahlen der Handelsaufsicht deutlich unter dem Durchschnitt gelegen, vorigen Freitag waren es mehr als 4 Milliarden gewesen.
Außergewöhnliche Preisbewegungen
Die Folgen des Erdbebens mit Zehntausenden Toten, Verletzten und Vermissten habe zu einer hohen Volatilität und außergewöhnlichen Preisbewegungen geführt, erklärte der Börsenbetreiber: Um das zuverlässige, transparente, effiziente, stabile, faire und wettbewerbsfähige Funktionieren der Märkte zu gewährleisten, habe man den Handel von Aktien und Derivaten eingestellt. Vor dem Handelsstopp hatten manche Unternehmen versucht, den Schaden für ihre Aktien zu begrenzen, indem sie Aktienrückkaufpläne ankündigten. Dazu gehörten die staatliche Turk Telekom und der Mobilfunkbetreiber Turkcell.
Das Beben hat zu großen Schäden an vielen tausend Häusern, Straßen und technischer Infrastruktur geführt. Vielerorts im Bebengebiet sind Gas- und Stromleitungen unterbrochen. Allerdings wurde der Betrieb einer Ölleitung aus dem Irak mit 400.000 Barrel am Tag in den zuvor geschlossenen Ölhafen Cheyhan wieder aufgenommen. Die aus Aserbaidschan kommenden Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline blieb indes außer Betrieb. Die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines kündigte Flüge für Zehntausende zu Sonderkonditionen aus dem Bebengebiet an.
35 Milliarden Dollar Kursverlust
Bis zum Handelsstopp am Mittwoch hatte der Benchmark-Index 35 Milliarden Dollar an Wert verloren und steuerte auf das schlechteste Wochenergebnis seit der Finanzkrise 2008 zu. Selbst nach der Stornierung der Transaktionen vom Mittwoch belaufen sich die (Buch-)Verluste der zweitägigen Bärenrallye nach den Erdbeben auf 21 Milliarden Dollar verursacht. Nachdem türkische Aktien im Vorjahr weltweit am besten abgeschnitten hatten, zeigen sie nach 6 Wochen im neuen Jahr die genau gegenteilige Entwicklung.
Das trifft viele heimische Anleger hart, die in Aktienengagements eine wertbeständige Anlage angesichts einer galoppierenden Inflation von aktuell immer noch 58 Prozent im Jahresvergleich gesehen hatten. Internationale Investoren hatte sich von dem Markt wegen wiederkehrender Turbulenzen und der „unorthodoxen Wirtschafts- und Geldpolitik“ von Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abgewandt, die auch Zinssenkungen trotz steigender Lebenshaltungskosten beinhaltet. Lokale Investoren hielten zuletzt 70 Prozent der Aktienbestände aus, gegenüber 35 Prozent im Jahr 2020.
Forderung nach Rückabwicklung aller Geschäfte
Auch vor dem Hintergrund erklären sich Forderungen inländischer Investoren, nach einer Rückabwicklung aller Handelsgeschäfte von Montag und Dienstag. „Wir fordern die Rückabwicklung aller Geschäfte, die ab dem 6. Februar 2023 an der Borsa Istanbul stattfanden, und die Schließung der Börse während der nationalen Trauerzeit", heißt es in einer Online-Petition, die nach Agenturberichten binnen weniger Stunden mehr als 10.000 Unterschriften erhielt. Zustimmung erfuhren sie von Murat Bakan, einem Parlamentsabgeordneter der größten Oppositionspartie. Er schrieb auf Twitter, es reiche nicht, den Handel auszusetzen. Alle Geschäfte, die nach dem Erdbeben an der Istanbuler Börse stattfanden, müssten storniert werden.
In der Türkei soll Mitte Mai ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt werden. Die Wirtschaftslage mit einer Verdoppelung der Lebensmittelpreise und der durch das Beben weiter geschwächten Landeswährung Lira haben Erdogan bereits vor dem Beben politisch unter Druck gesetzt. Wachsende Kritik an den zu langsam angelaufenen Hilfsmaßnahmen im Bebengebiet bei Minusgraden kommt nun hinzu. Unzufriedene der Anleger, als mittelbar vom Beben Betroffene, kann Erdogan da nicht auch noch gebrauchen.