Taxonomie : Europas Bekenntnis zur Kernenergie
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Kernkraftwerk an der Isar Bild: imago/STAR-MEDIA
In der EU hat die Kernenergie schon lange eine feste Verankerung. Die Pläne zur Taxonomie rücken sie wieder ins Zentrum.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, Atomkraft und Gas als grüne Energiequellen einzustufen. Das Vorhaben gehört zur EU-Taxonomie, die private Investitionen für die künftige Klimaneutralität mobilisieren soll. Die Debatte, die hierzulande darüber geführt wird, erweckt den Eindruck, die Pläne seien unvorhersehbar gewesen. Das Dossier ist jedoch ein Lehrbeispiel dafür, dass man sich zuweilen an die Themenbreite der EU nicht erinnert und über das Ausmaß überrascht scheint, in dem das Europarecht den politischen Gestaltungswillen vorformt.
Ende der 1950er-Jahre traten neben die Montanunion die Europäische Wirtschafts- und die Atomgemeinschaft, kurz Euratom. Die drei Gemeinschaften setzten den Rahmen für die europäische Integration bis in die 2000er-Jahre. Nach 50 Jahren trat der Montanvertrag 2002 planmäßig außer Kraft, und die Wirtschaftsgemeinschaft wurde zur Europäischen Union. Nur Euratom besteht fort, in einer Nische schwindender Bedeutung und bewussten Vergessens, in die nur gelegentlich Licht fällt, etwa mit der EU-Taxonomie.
Das Schattendasein hat zwei Gründe: Euratom wurde mit großen Erwartungen gegründet. Mit der zivilen Nutzung der Atomkraft sollte das Problem günstiger und ausreichender Energie gemeinschaftlich in einem sicheren Rahmen gelöst werden. Die Präambel des Euratom-Vertrags beschwört diese Überzeugung, wenn es dort heißt, die Kernenergie sei eine „unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt“. Ziel war und ist es, die Voraussetzungen für die „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ zu schaffen.
Die Erwartungen erfüllten sich nur teilweise, die Wirtschaftsgemeinschaft dominierte. Zudem waren die Gründungsstaaten von Beginn uneins. Die Bundesrepublik stand ambivalent zur Atomkraft, Luxemburg entschied sich dagegen, in den 1980er-Jahren erklärte Italien seinen Atomausstieg. Gleichwohl hatten sie Euratom gegründet und verlangten bei jeder Erweiterung auch den Beitritt zum Euratom-Vertrag. Die Mitgliedstaaten überbrückten den Dissens durch den Grundsatz, jeder solle selbst über den Energiemix und damit über die Nutzung der Kernenergie entscheiden – dies gilt bis heute. Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Ablehnung der Atomkraft zielt die Kritik auch auf Euratom. Einzelne Mitgliedstaaten, darunter Deutschland und Österreich, wollen sich mit dem Kompromiss nicht mehr zufriedengeben.
Diese politische Ablehnung hat allerdings bislang nur die Uneinigkeit über die Atomkraft sichtbar gemacht. In den Verhandlungen über den gescheiterten Verfassungsvertrag zu Beginn der 2000er- Jahre wurde dies deutlich. Der Konvent widmete dem Gründungsdokument kaum Aufmerksamkeit. Änderungswünsche setzen sich nicht durch. Am Ende fügten Deutschland, Österreich, Irland, Ungarn und Schweden dem Verfassungsvertrag eine Erklärung bei mit dem Hinweis, den Euratom-Vertrag „so rasch wie möglich“ zu aktualisieren. Das ist nicht geschehen – der Vertrag von Lissabon hat den Vertrag 2009 nur redaktionell geändert.
Seitdem konzentriert sich Kritik verstärkt auf den institutionellen Rahmen von Euratom. Und tatsächlich bleibt dieser hinter dem geltenden Unionsrecht zurück. Das Europäische Parlament hat nur ein Anhörungsrecht. Mit neuen, auf das Demokratiedefizit ausgerichteten Gutachten versucht etwa Österreich den stabilen Euratom-Vertrag aufzubrechen und das Vertragsziel der Kernenergieförderung zu streichen. Eine solche Zieländerung ist aus Kritikersicht dringend, weil bereits das geltende Europarecht staatliche Beihilfen zugunsten von Kernenergieaktivitäten gestattet. Eine ambitionierte Nichtigkeitsklage Österreichs gegen die Förderung des britischen Kraftwerks Hinkley Point hat der Gerichtshof zuletzt im September 2020 zurückgewiesen. Immerhin hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass der Euratom-Vertrag der Anwendung des unionalen Umweltrechts auf dem Kernenergiesektor nicht entgegenstehe und dass Beihilfen auch am Vorsorgeprinzip und der Nachhaltigkeit zu messen seien.
Der Kommissionsvorschlag für die EU-Taxonomie überrascht also nicht. Die EU hat in ihrem Portfolio einen Vertrag, der die Förderung der Atomkraft vorsieht und es den Mitgliedstaaten überlässt, ob sie diese nutzen wollen. Der Euratom-Vertrag ist von allen Mitgliedstaaten ratifiziert und damit demokratisch legitimiert. Für seine Änderung fehlt bislang der Konsens. Aber auch für eine erwogene, einseitige Vertragskündigung besteht einstweilen kein politischer Wille. Die Folgen solch eines Schrittes gegen die Atomkraft befürwortende Mitgliedstaaten sind gut zu abzuwägen. Die europäische Integration bedeutet eben doch umfassende politische Solidarität, an der sich partikularer Gestaltungs- und sogar parlamentarischer Mehrheitswille brechen.
Der Euratom-Vertrag ist, solange es keinen einmütigen Änderungswillen gibt, eine supranationale Rechtstatsache. Dadurch wird die Politik unter Erklärungsdruck gesetzt und die Akzeptanz des deutschen Mehrheitsstandpunkts herausgefordert. Wenn die EU den Rahmen für politische Möglichkeiten setzt, dann sollte – so könnte die Botschaft des Lehrbeispiels lauten – nicht ein Teil davon vergessen werden.
Der Autor lehrt Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Göttingen.