Essay : Freiheit gehört nicht nur den Reichen
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Der Markt bietet den idealen Raum für die Freiheit. Auf den Staat setzen die Freunde der Gleichheit. So hat Rainer Hank vor wenigen Tagen hier argumentiert. Dagegen regt sich Widerspruch: Wer heute ein freies Leben führen will, muss den ungezügelten Markt bekämpfen. Sagt Lisa Herzog.
Was ist liberal? In einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie für die F.A.Z. nennen die Befragten nicht nur die Verwirklichung größtmöglicher Freiheit, sondern auch den Abbau von Einkommensunterschieden, die Einführung von Mindestlöhnen und die staatliche Förderung junger Familien (siehe Grafik).
Wissen die Leute überhaupt, wovon sie reden? In das klassische Schema, in dem „liberal“ für „weniger Staat“ steht, passen die Antworten jedenfalls nicht. Aber könnte es sein, dass dies eher auf ein Problem unseres Umgangs mit dem Begriff „Liberalismus“ hindeutet als auf die Begriffsstutzigkeit der Befragten? Könnte es sein, dass Liberalismus heute etwas anderes heißt, vielleicht heißen muss, als für weniger Staat zu sein? Schon die Geschichte des Liberalismus zeigt: Facettenreich war dieser Begriff schon immer.
Der Grundwert des Liberalismus ist die individuelle Freiheit. Das Instrument, um sie zu sichern, sind Rechte: Rechte, die Lebensstil, Religion, die eigene Meinung und deren Äußerung vor willkürlichen Zugriffen schützen. Diese wiederum müssen selbst durch staatliche Instanzen durchgesetzt werden - schon in diesem Sinne kann ein konsistenter Liberalismus nicht völlig vom Staat absehen.
Ein wesentlicher Strang in der Geschichte liberaler Gesellschaften bestand gerade in den Kämpfen darum, welche Rechte für welche Gruppen staatlich anerkannt und durchgesetzt werden. Ob es um die Abschaffung von Sklaverei, das Wahlrecht für Frauen oder die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ging, immer war es das Recht der oder des Einzelnen auf ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben, das im Mittelpunkt der Debatten stand.
So weit, so klar. Komplizierter werden die Begrifflichkeiten, sobald es um ein ganz bestimmtes Politikfeld geht: die Wirtschaftspolitik. Seit der Frühform des Liberalismus wurden zu den individuellen Rechten, auf die die Obrigkeit keinen Zugriff haben sollte, private Eigentumsrechte gezählt. Mehr noch: Für manche Liberale galten Eigentumsrechte geradezu als Garant anderer individueller Rechte. Der freie Markt als Ausfluss einer privaten Eigentumsordnung wurde gefeiert als Instrument zur Dezentralisierung von Macht. Dieser Wirtschaftsliberalismus kennt verschiedene Spielarten, von den fast anarchistisch anmutenden Fantasien einer Ayn Rand bis hin zur Freiburger Schule, die staatliche Aufsicht als notwendige Bedingung für die Verhinderung von Monopolen und Kartellen sah.
Man kann Wirtschaftsliberaler sein, ohne die radikalen Forderungen der Chicago-Schule zu teilen
In letzter Zeit waren es vor allem die neoliberalen Schlachtrufe Chicagoer Provenienz, die sich für den brachialen Abbau von Staatstätigkeit fast jeder Art einsetzten - eben fast alles, was über den Schutz individueller Rechte hinausgeht. Man kann Wirtschaftsliberaler sein, ohne diese radikalen Forderungen zu teilen. Gemeinsam ist allen Formen jedoch: Hier wird die Freiheit des Marktes hochgehalten, und dem Staat wird ein gewisses Misstrauen entgegengebracht, sobald er über die Minimalfunktion der Rechtesicherung hinausgeht. Wenn, frei nach Carl Schmitt, das Schema von Freund und Feind zentral für die Politik ist, ist der Feind hier ein Staat, der über seine eigentliche Aufgabe hinausgeht und schlingpflanzenartig das freie Spiel des Marktes zu ersticken droht.