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Erklär mir die Welt (100) : Warum ist das Wachstum grenzenlos?

  • -Aktualisiert am
Es wächst und gedeiht

Es wächst und gedeiht Bild: Dieter Rüchel

Seit zwei Jahren bittet die Sonntagszeitung Woche für Woche einen Autoren, uns die Welt zu erklären. Nun können wir Jubiläum feiern: In der einhundertsten Folge stellen wir Karen Horn die alte Frage nach den Grenzen des Wachstums einmal andersrum.

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          Warum reden eigentlich Politiker und Ökonomen immer von Wirtschaftswachstum? Haben wir nicht schon genug Wohlstand, muss es denn immer mehr sein? Wäre Nullwachstum - also die Wiederholung des schon Erreichten - für Deutschland nicht ausreichend, und wäre nicht sogar eine leichte Schrumpfung hinnehmbar, angesichts des üppigen Reichtums, den wir schon haben?

          Hier gilt es innezuhalten. Denn die These dahinter lautet: Wir haben die Sättigung erreicht. Keiner braucht wirklich mehr, als er schon hat. Aber stimmt das? Sind unsere Bedürfnisse erfüllt?

          Wenn man dem Nachbarn nicht moralisierend vorgeben will, welche seiner Wünsche legitim sind und welche nicht, dann kann die Antwort nur heißen: wohl kaum. Zwar haben wir in Deutschland ein Bruttoinlandsprodukt je Einwohner von gut 28 000 Euro, gemessen im Jahr 2006, und dieser Wert nimmt stetig zu. Auf diese Pro-Kopf-Größe kommt es eigentlich an, nicht etwa auf die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts an sich. Denn wenn die Bevölkerung schrumpft, dann ist es statistisch gesehen so, dass auch bei stagnierender Gesamt-Wirtschaftsleistung noch immer der Anteil jedes einzelnen Bürgers steigen kann.

          Bild: F.A.Z.

          Wachstumsverzicht ist keine Lösung

          Aber auch wenn unsere Lage gut ist und tatsächlich immer besser wird: Erfüllt sind unsere Bedürfnisse noch längst nicht. Wir alle wünschen uns mehr, streben nach mehr. Mehr Arbeitsplatzsicherheit, einen höheren Lebensstandard, mehr Geld. Oder zumindest mehr Zeit - was bei Lichte betrachtet auch nichts anderes bedeutet als mehr Geld. Schließlich wollen wir ja weiterhin, auch bei weniger Arbeit, unser Auskommen haben. Was genau wir mit dem zusätzlichen Wohlstand anfangen wollen, ist jeweils nicht in Stein gemeißelt. Unsere Bedürfnisse unterscheiden sich, und sie sind ständig im Fluss. Die Menschheit ist kreativ im Erfinden von neuen Dingen - und die wollen wir als Konsumenten dann auch haben.

          Und wenn schon wir, in unserem entwickelten, wohlhabenden Land, diesen Wunsch nach mehr verspüren, dann ist auch klar, dass es mit Blick auf die ärmeren Regionen der Welt geradezu zynisch wäre, von Sättigung zu sprechen. In China beispielsweise, wo die Wirtschaft nun schon seit Jahren boomt wie verrückt, liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner immer noch bei nur knapp 5000 Euro.

          Die Wachstumskritiker reden freilich meist auch gar nicht von Sättigung. Sie fordern vielmehr einen Wachstumsverzicht in der reichen, industrialisierten Welt zugunsten der bedürftigen Entwicklungsländer. Sie wollen gleichsam eine geographische Umverteilung des wirtschaftlichen Fortschritts von denen, die bisher beispielsweise etwa vier Fünftel der Wirtschaftsleistung auf sich vereinten, hin zu denjenigen, die nur ein Fünftel davon haben.

          Irgendwas ist immer knapp

          Nur funktioniert so etwas gar nicht: Wenn die Wirtschaft der entwickelten Länder weniger stark wächst, haben automatisch auch die Entwicklungsländer keine wachsenden Absatzmärkte und können auch keine neuen Produktivitätsfortschritte importieren. Und so leiden sie zwangsläufig mit. Die Weltwirtschaft ist ein Netz des Austausches, des ständigen Miteinanders. Insofern muss es schon Sorge bereiten, wenn das Wachstum der Weltwirtschaft infolge der Turbulenzen an den Finanzmärkten für das laufende Jahr nur noch auf 4,1 Prozent geschätzt wird, nach 4,9 Prozent im vergangenen Jahr.

          Man mag das immer noch üppig finden vor dem historischen Hintergrund, dass das globale Wirtschaftswachstum bis zur industriellen Revolution 1820 auf nicht mehr als 0,05 Prozent geschätzt wird. Das stimmt. Doch eine Verlangsamung von 0,8 Prozentpunkten im Jahr ist beängstigend gerade angesichts eines aktuellen globalen Bevölkerungswachstums von noch immer mehr als 1 Prozent.

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