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Energiekrise : Atomkraft löst nicht alle Probleme

Zurück zur Atomkraft? Die Grünen haben für den Atomausstieg gekämpft. Bild: dpa

Das Ziel, die Abhängigkeit von russischen Energieträgern zu reduzieren, bringt die Kernenergie wieder ins Gespräch. Sie könnte zwar helfen – mehr aber auch nicht.

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          Plötzlich ist die Atomkraft in Deutschland wieder zum Thema geworden. Der drohende Energieengpass durch den Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen hat dafür gesorgt. Das Argument für die Atomkraftwerke geht so: Die Öl- und Gasimporte aus Russland könnten von heute auf morgen versiegen. In dieser Ausnahmesituation sollten wir die Kernkraft länger nutzen, als wir bisher vorhaben.

          Drei Anlagen sind in Deutschland noch in Betrieb: die Atomkraftwerke Emsland in Nie­dersachsen, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern. Eigentlich sollen sie Ende des Jahres vom Netz gehen, womit der vor elf Jahren vom Bundestag beschlossene deutsche Atomausstieg planmäßig abgeschlossen wäre – auch wenn die Endlagerfrage noch längst nicht geklärt ist. Die Bundesregierung will trotz der akuten Energiekrise an diesem Zeitplan festhalten. 

          Inzwischen macht sich unter anderem die Union für eine „mögliche Verlängerung“ der Atomkraftwerkslaufzeiten stark. Der Branchenverband Kerntechnik Deutschland wiederum setzt sich dafür ein, die drei Kernkraftwerke weiterzubetreiben und zwei weitere zu reaktivieren. Dem Verband gehört mit Eon einer der drei noch verbliebenen Kernkraftwerksbetreiber an. Die beiden anderen Energieunternehmen, die in Deutschland derzeit noch Atomstrom erzeugen – ENBW und RWE –, sind nicht Mitglieder. Die von der Bundesregierung angeführten Gründe, warum eine Atomkehrtwende nicht möglich sei, hält Kerntechnik Deutschland für „fachlich unzutreffend“.

          Beitrag zur Energieversorgung überschaubar

          Es liegt auf der Hand, dass es der deutschen Energieversorgung helfen würde, wenn die drei letzten Atomkraftwerke länger als derzeit vorgesehen genutzt würden. Strom, der bisher mithilfe von russischem Erdgas erzeugt wird, könnte so ersetzt werden. Die entscheidende Frage ist allerdings: Wie stark würde uns eine Verlängerung der Laufzeiten helfen? Und hier ist die Antwort ziemlich ernüchternd.

          Nach Berechnungen der Unternehmensberatung Kearney würde im Falle eines Weiterbetriebs der drei Kernkraftwerke der Erdgasverbrauch in Deutschland um knapp sechs Prozent sinken. Auch das wäre in der derzeitigen Notlage ein Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung, aber eben ein überschaubarer. Zur Einordnung: Russische Lieferungen deckten vergangenes Jahr mehr als die Hälfte des deutschen Erdgasverbrauchs.

          Atomkraftwerke erzeugen Elektrizität. Aber die Stromwirtschaft ist in Deutschland ein Sektor, in dem Erdgas nur eine Nebenrolle spielt: Rund 16 Prozent unseres Strombedarfs werden durch Gaskraftwerke gedeckt, deutlich weniger als durch erneuerbare Energien oder Kohlekraftwerke. Erdgas wird hierzulande in erster Linie für Industrieanlagen sowie zum Heizen von Wohnungen und Büros eingesetzt. Etwa zwei Drittel des gesamten Gasverbrauchs in Deutschland entfallen auf die Raum- und Prozesswärme.

          Deshalb ist in vielen Fällen zumindest kurz- und mittelfristig das russische Gas nicht durch deutschen Atomstrom zu ersetzen. Eine Gasheizung kann nun mal nicht elektrisch betrieben werden. Und der Austausch von Millionen Gasheizungen in deutschen Wohnungen gegen strombetriebene Wärmepumpen wird viele Jahre dauern. In älteren Gebäuden mit Heizkörpern und schlechter Isolierung taugen Wärmepumpen bislang häufig gar nicht als Ersatz.

          Das alles bedeutet nicht, dass es keine Argumente für die Atomkraft als Brücke zur Energiewende gibt. Windkraft- und Photovoltaikanlagen liefern zwar viel Strom, aber eben nicht konstant. Solange es an technischen Möglichkeiten fehlt, um Strom aus erneuerbaren Quellen in großen Mengen zwischenzuspeichern, braucht es für die Flautenzeiten weitere Stromquellen. Atomkraftwerke könnten eine klimaschonende Lösung sein. Aber ein Allheilmittel gegen Wladimir Putin sind sie nicht.

          Marcus Theurer
          Redakteur in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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