Arbeitsumfeld gefällt nicht : Warum Frauen die IT verlassen
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Christine Regitz ist Präsidentin der Gesellschaft für Informatik (GI), der größten Informatik-Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum. Bild: Picture Alliance
Weder Unternehmen noch Politik oder Schulen bemühen sich ausreichend um weibliche Talente. Ein Gastbeitrag der Präsidentin der Gesellschaft für Informatik.
Über die zahlreichen unbesetzten Stellen im IT-Bereich wird viel gesprochen. Doch was die meisten nicht auf dem Schirm haben: Oftmals gab es gute Kandidatinnen auf den jeweiligen Posten, die sich nach einer gewissen Zeit jedoch entschieden haben, das entsprechende Unternehmen wieder zu verlassen. Oder gleich die ganze Branche. Einer Studie der EU-Kommission zufolge sind im Alter von 45 Jahren mehr als 90 Prozent der Frauen mit einem Hochschulabschluss in Informationstechnologie nicht mehr im IT-Sektor tätig – eine erschreckend hohe Zahl, die deutlich macht, wie unattraktiv dieser für viele weibliche Beschäftigte immer noch ist.
Vielen Unternehmen scheint noch nicht bewusst zu sein, dass man weibliche Fachkräfte nicht nur gewinnen, sondern auch halten muss. Doch das Problem beginnt schon viel früher. Wie früh Mädchen sich schon gegen die Informationstechnologie entscheiden, zeigen die Teilnahmezahlen der Bundesweiten Informatikwettbewerbe, die durch das Bundesbildungsministerium gefördert werden. Während im sehr niederschwelligen Informatik-Biber, an dem im vergangenen Jahr 430.000 Schülerinnen und Schüler teilgenommen haben, der Mädchenanteil in Klassenstufe 5 und 6 ungefähr 50 Prozent beträgt, reduziert er sich auf 35 Prozent in der Oberstufe. Im Jugendwettbewerb Informatik mit seinen 35.000 Teilnehmenden sind in der letzten Runde lediglich 23 Prozent weiblich, und im Leistungsbereich – dem Bundeswettbewerb Informatik mit etwa 1600 Teilnehmenden – geht der Anteil der Mädchen in der Endrunde auf sieben Prozent zurück.
Demnach ist das Interesse an der Informatik offenbar anfangs unter Jungen und Mädchen gleich hoch, doch die Verhältnisse verändern sich innerhalb weniger Jahre drastisch. In einer wissenschaftlichen Studie, für die mehr als 3000 Teilnehmende befragt wurden, ging das Wettbewerbsteam dieser Entwicklung auf den Grund. Die Ergebnisse lassen auch weit über die Wettbewerbe hinaus darauf schließen, wie Informatik junge Menschen erreicht – oder eben nicht.
Das „Nerd“-Stereotyp
Ein wichtiger Faktor für Mädchen ist demnach ihr eigenes soziales Selbstbild, das mit steigendem Alter zunehmend im Konflikt mit dem Interesse an der Informatik steht. Hier spielen natürlich auch gängige Stereotype eine Rolle: Das „Nerd“-Stereotyp – wenige soziale Kontakte und den ganzen Tag am Computer – hat zwar für alle Befragten einen negativen Effekt auf Interesse und Wettbewerbsteilnahme, dies ist aber unter Mädchen stärker ausgeprägt. Das Stereotyp rund um das Thema Erfolg, verbunden mit Intelligenz und Wohlstand, wirkt sich allgemein positiv auf Interesse und Teilnahme aus, tut das unter Mädchen aber weniger stark.
Diese und ähnliche Stereotype ziehen sich durch alle Altersgruppen und lassen sich gerade im Erwachsenenalter nur schwer aufbrechen. So ist Programmieren heute immer noch eine klar männlich konnotierte Tätigkeit, zumal Mannsein ohnehin mit technischer Kompetenz assoziiert wird. Laut Studie braucht es möglichst frühe Berührungspunkte, um Mädchen trotzdem für die Informatik zu gewinnen und solche Vorurteile zu entkräften. Hier sind die Schulen gefragt, junge Menschen klischeefrei und ohne Wertung zu unterrichten – und zwar nicht nur die, die durch ihr Umfeld oder erste Gaming-Erfahrungen ohnehin schon an der IT interessiert sind.
Langfristig wird das ohne ein bundesweit fest verankertes Pflichtfach Informatik nicht möglich sein. Gemeinschaftliche Lern-Settings und kokreatives Arbeiten können Mädchen zudem helfen, gesellschaftliche Hürden zu überwinden. Geschlechterklischees müssen aber nicht nur in Schulen bekämpft werden. Auch Eltern spielen hier eine prägende Rolle und können die Studien- und Berufswahl ihrer Kinder stark beeinflussen. Sie müssen sich dieser Verantwortung bewusst sein und gerade Mädchen ermutigen, sich über Stereotype hinwegzusetzen.
Es fehlt an Vorbildern
Denn fest steht: Ohne Mädchen und Frauen sind die Herausforderungen, vor denen der deutsche IT-Sektor aktuell steht, nicht mehr zu meistern. Längst ist belegt, dass diverse Teams bessere Ergebnisse erzielen und effizienter wie auch kreativer arbeiten. Für Unternehmen sollte die Motivation eigentlich vorhanden sein, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen und in dem Frauen genauso gehört und bezahlt werden wie Männer. Aktuell ist dies in vielen Unternehmen jedoch noch nicht der Fall. Es liegt an den Unternehmen, blinde Flecken in den eigenen Strukturen und Kulturen zu erkennen, sichtbar zu machen und zu verändern. Das ist nicht immer einfach, denn meist sind es – wie auch in den Schulen – subtile, unbeabsichtigte Mechanismen, die Frauen in der Informatik entgegenstehen. Es braucht einen Kulturwandel, nicht nur auf der Team-Ebene, sondern auch gesellschaftlich.
Realistisch gesehen, wird sich die Fluktuation von Frauen in der IT so schnell also nicht verhindern lassen. Ein Ansatz dagegen: Das Projekt „Werde Informatiklehrerin“ will Frauen aus der IT-Branche für eine Lehrtätigkeit an deutschen Schulen gewinnen. Denn nur jede dritte Lehrkraft für das Fach Informatik ist weiblich. So fehlt es Mädchen schon in der Schule an Vorbildern und Bezugspersonen, ein Faktor, der sich auch laut der Studie negativ auf das Interesse an dem Fach auswirkt. Und ganz unabhängig vom Geschlecht: Wie wertvoll eine gute Lehrkraft sein kann, weiß übrigens auch ich aus eigener Erfahrung – ohne meinen Mathelehrer hätte es auch mich nicht in die Tech-Branche verschlagen.
Christine Regitz ist Präsidentin der Gesellschaft für Informatik (GI), der größten Informatik-Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum.