„Digitale Demenz“ : Analoge Ignoranz spielt mit den Ängsten der Menschen
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Ein Spiel mit der analogen Angst: Fernsehen und Computer sind für Kinder schädlich, sagt Hirnforscher Spitzer. Bild: dpa
Der Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer warnt in seinem Buch vor „digitaler Demenz“. Seine Thesen: Computer machen süchtig, einsam und dumm. Doch die Argumente des Autors sind fadenscheinig. Ein Standpunkt von Dieter Kempf.
Man braucht es nicht, und trotzdem wird es wie verrückt gekauft. Was ist das? Ganz einfach: ein Heimcomputer.“ So hat im Oktober 1984 die „Stiftung Warentest“ einen Bericht überschrieben. Und kam zu dem Schluss: „Wer auf die elektronische Aufrüstung seines Heimes verzichtet, büßt keine Lebensqualität ein.“ Heute, fast 30 Jahre später, wissen wir es besser. Mehr als drei Viertel der Deutschen sind im Internet unterwegs, der Computer gehört zur Standardausstattung der meisten Haushalte, und Smartphones begleiten uns in vielen Lebenssituationen. Trotzdem wird wieder über den Nutzen von PCs gestritten. Der Computer wird zur Droge erklärt, die Millionen in die Spielsucht treibt, das Internet zu einem Krankheitserreger, der dumm macht. Der Hirnforscher Manfred Spitzer warnt vor „digitaler Demenz“.
Aber: Hilft analoge Ignoranz wirklich weiter, um Handlungsbedarf zu erkennen und Korrekturen dort einzuleiten, wo sie notwendig sind? Spitzer scheint bewusst mit den Ängsten der Menschen zu spielen, vor allem der Eltern. Seine Thesen sind ein Stakkato des Schreckens: Erstens machen Computer süchtig und einsam. Zweitens machen Computer dumm. Und deshalb - drittens - sollten Kinder vom Computer ferngehalten werden. Stattdessen empfiehlt Spitzer Fingerspiele. Dabei kann es im Jahr 2012 nicht mehr ernsthaft um die Frage gehen, Computer ja oder nein. Die Antwort kann nur lauten: Computer ja, aber bitte richtig.
1. Die Trennung zwischen virtueller und realer Welt existiert für viele Kinder überhaupt nicht - sie leben in einer digital-analogen Realität
Wie jede neue Technologie haben auch die digitalen Innovationen Schattenseiten, etwa exzessives Spielen oder Cybermobbing. Aber das sind die Ausnahmen, nicht die Regel. Die aktuelle Studie „EXIF - Exzessive Internetnutzung in Familien“, die vom Bundesfamilienministerium beauftragt wurde, kommt zum Ergebnis, dass es derzeit nicht einmal eine einheitliche Diagnose für Computer- oder Internetabhängigkeit gibt, geschweige denn verlässliche Zahlen.
Wir wissen aus unseren Umfragen, dass gerade einmal 3 Prozent der Jugendlichen, die älter als 14 Jahre sind, mehr als vier Stunden je Tag am Computer spielen. Das sind unzweifelhaft 3 Prozent zu viel, aber es ist eben kein Massenphänomen. Gleichzeitig machen 59 Prozent Denk- und Strategiespiele am Computer, 18 Prozent nutzen ihn zur Weiterbildung oder zum Sprachentraining.
Macht das Internet einsam und unglücklich? Die Behauptung allein wird bei vielen Menschen auf Zustimmung stoßen, spiegelt sie doch das Unbehagen zahlreicher Eltern über die Computer- und Internetnutzung ihrer Kinder. Kaum zurück aus der Schule, fangen sie an zu chatten. Spitzer belegt dieses Bauchgefühl vermeintlich wissenschaftlich fundiert mit Hinweis auf eine nicht näher bezeichnete amerikanische Studie, nach der Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren in den Vereinigten Staaten täglich sieben Stunden online seien, aber nur zwei Stunden reale Kontakte hätten.
Solche Zahlen widersprechen in einem Maß jeder persönlichen Beobachtung und Plausibilität, dass man sich von Spitzer etwas mehr wissenschaftliche Distanz von solchen Pseudo-Belegen wünschen darf. Anders die methodisch saubere EXIF-Studie, wonach 96 Prozent der jugendlichen Nutzer von sozialen Netzwerken ihre Internet-Kontakte auch real kennen. Das Internet ermöglicht und verstärkt soziale Interaktion, es verhindert sie nicht.