Ökonomische Ungleichheit : Die Tücken der Armutsstatistik
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Es kommt auf den Maßstab an
Man kann über die Aussagekraft der 60-Prozent-Armutsrisikoschwelle trefflich streiten. Das beliebte Gegenargument, dass durch diese Definition immer Arme gemessen werden, egal wie hoch das Durchschnittseinkommen sei, stimmt aber nicht: Denn wenn die Einkommen insgesamt steigen und gleichzeitig die untersten Einkommen überproportional, dann kann relative Armut im Grenzfall ganz verschwinden. In den Niederlanden war dies zeitweise tatsächlich der Fall.
Ein schwieriges Kapitel der Armutsmessung ist es, unterschiedlich große Haushalte vergleichbar zu machen. Wo es mehr Köpfe gibt, ist ja unbestreitbar der Bedarf höher. Aber der Bedarf wächst nicht proportional mit der Zahl der Köpfe, da es Kostendegression gibt. Ein Vier-Personen-Haushalt braucht nicht viermal so viel Wohnfläche wie ein Ein-Personen-Haushalt, und auch der Kühlschrank muss nicht viermal so groß sein. Was aber genau die „richtigen“ Faktoren sind, um unterschiedlich große Haushalte vom Einkommen her vergleichbar zu machen, ist eine Wissenschaft für sich.
Zieht man die Zufriedenheit mit dem Einkommen oder mit dem Leben insgesamt als ein Maßstab heran, dann zeigt sich, dass die Kostendegression - zumindest für Durchschnittshaushalte - größer ist als das Armutsstatistiker mit ihrer „Äquivalenz-Gewichtung“ - so der Fachausdruck für die Normierung der Haushaltsgröße - unterstellen; das heißt, die Armutsgefährdung von Familien wird statistisch überschätzt. Hans-Werner Sinn illustriert dies mit dem Beispiel, dass durch die Trennung von Paaren plötzlich mehr Menschen - sogar bei höheren Sozialleistungen - plötzlich als arm gelten.
„Volksbildung“ als bestes Messinstrument
Die Verwirrung um die vielen Armutszahlen, die im öffentlichen Raum kursieren, hat nicht nur etwas mit den Schwierigkeiten einer allgemeingültigen Definition von Armut zu tun, sondern auch viel mit dem statistischen Unsicherheitsbereich, der bei Stichprobenerhebungen unvermeidbar ist. Dadurch liefern unterschiedliche Stichproben verschiedene Zahlen. Und alle Armutsstatistiken beruhen auf Stichproben privater Haushalte. Wodurch, wie Nahles anmerkte, zum Beispiel illegale Einwanderer als besonders armutsgefährdete Gruppe nicht berücksichtigt werden. Hinzu kommt - und das ist für die öffentliche Diskussion vielleicht das größte Problem -, dass die meisten Menschen und durchaus auch viele Entscheidungsträger keine oder nur oberflächliche Kenntnisse über statistische Methoden und die angemessene Interpretation von Statistiken haben.
Was ist nun die beste Methode, um Armut zu messen? Da man niemals zu einer unstrittigen Definition von „Armut“ kommen wird, ist „Volksbildung“ im wahrsten Sinne des Wortes das beste Instrument, um die Debatte über Armut aussagekräftiger zu machen. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin betont immer wieder zu Recht, dass in den Schulen weniger höhere Mathematik (die im Alltag kaum jemand braucht und um die viele versuchen herumzukommen) gelehrt werden sollte, sondern die Grundzüge statistischer Methodik, einschließlich der Erhebungsprobleme und der Interpretation statistischer Kennziffern. Damit würde nicht nur Bildungsarmut kleiner werden, sondern die öffentliche Debatte über Armutsstatistiken auf eine informierte Grundlage gestellt werden. Das Ziel, das Amartya Sen formulierte, ist ja erstrebenswert: weniger Armut auf der Welt.
Zur Person
Gert G. Wagner ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin und Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.