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Kommentar : Durchmarsch der SPD

  • -Aktualisiert am

Andrea Nahles und Olaf Scholz beim jüngsten SPD-Parteitag Bild: dpa

Kanzlerin Merkel wird die Mitte der Gesellschaft noch stärker schröpfen – und die SPD jubiliert.

          3 Min.

          Nach diesem Durchmarsch muss die SPD die Mitgliederbefragung nicht fürchten. Die wahrscheinlich neue Parteivorsitzende Andrea Nahles und der neue Finanzminister Olaf Scholz bilden künftig das Kraftzentrum der Sozialdemokraten, der bisherige Parteiführer Martin Schulz wird wohl Außenminister, sein Vorgänger Sigmar Gabriel wird nix. Für die CDU ist der Ausgang der Koalitionsverhandlung ein Debakel. Für die Bürger dürfte die neue Regierung eine der teuersten aller Zeiten werden. Die Ausgabewünsche der Sozialpolitiker dominieren, die haushaltspolitische Vernunft kam unter die Räder. Früher gehörten Finanz- und Wirtschaftspolitik zum Markenkern der Union, heute nicht mehr. Die CDU wurde von einer 20-Prozent-Partei über den Tisch gezogen. Alle zentralen Ressorts gehen an die SPD oder die CSU. Ist das der Preis dafür, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin bleibt?

          Wie kann Deutschland seinen Wohlstand wahren in einer sich rasant wandelnden Welt, in der vieles ins Rutschen gerät? Wie wird die Gesellschaft fit für die digitale Zukunft? Antworten sucht man im Koalitionsvertrag vergebens. Zukunft spielt in Merkels dritter schwarz-roten Koalition nur eine Nebenrolle. Das erste Kapitel ist ein Dokument des Richtungswechsels, wie Schulz sagt. Mehr Geld für Brüssel, noch mehr Solidarität mit Südeuropa, Lob für die EU-Sozialunion und der Wille zur Vertiefung der Eurozone lassen das Herz des Berufseuropäers höher schlagen.

          Doch wie soll die Gefahr der doppelten Spaltung der EU (Ratspräsident Tusk) gebannt werden? Wer glaubt, eine Transferunion schließe die Kluft zwischen Nord und Süd, möge nach Norditalien oder nach Katalonien schauen. Und wer meint, mit der Verteilung von Flüchtlingen gegen den Willen der Länder die Spaltung zwischen Ost und West überwinden zu können, sollte sich den Ausgang der Wahlen in Mittelosteuropa und Österreich vor Augen führen. Weil im Europakapitel Schulz und EU-Kommissionspräsident Juncker die Feder führten, muss man später wohl Paris, Den Haag oder Wien danken, falls der gröbste Unsinn (Unionsrecht) verhindert wird und weiterhin zwischenstaatliche Regeln gelten.

          Was macht Europa in der Digitalisierung?

          Den Einfluss des Internets auf die Menschen, die Gesellschaft und die Welt kann man kaum überschätzen. Apple, Amazon, Google und Facebook geben sich apolitisch, doch für Amerika ist das Silicon Valley mindestens so politisch wie die Wall Street. Im Unterschied zur EU hat China das früh erkannt und mit Baidu, Tencent und Alibaba eigene Digitalgiganten geschaffen. Was macht Europa? Wie sieht Deutschland die Künstliche Intelligenz? Keine Antwort im Koalitionsvertrag: Der Breitbandausbau soll gefördert werden. Das versprach man schon oft. Stattdessen wird die digitale Überregulierung nicht ab-, sondern ausgebaut, etwa durch noch weniger Flexibilität am Arbeitsmarkt. So muss man ausländischen Besuchern erklären, warum günstige Uber-Taxis hierzulande politisch ausgebremst werden.

          Der schwarz-rote Regierungsplan liest sich wie eine Reise in die Vergangenheit. Viel ist die Rede von Solidarität, von sozialem Ausgleich und Umverteilung. Das Soziale wird betont, die Marktwirtschaft gibt es lediglich als ungeliebtes Anhängsel dazu. Ein Bekenntnis zur Freiheit oder Eigenverantwortung sucht man vergebens. Dafür werden die Zustände in der Pflege beklagt, auch Rente, Kitas und Bildung müssen angeblich repariert und der Familiennachzug geregelt werden. Ist die neue Regierung nicht auch die alte? Was für ein Menschenbild hat eigentlich diese Koalition? Es ist nicht der selbstverantwortlich handelnde Einzelne, der Ludwig Erhard vorschwebte. Es ist der vom Sozialstaat betreute abhängige Untertan.

          Das zeigt sich in der Steuerpolitik. Der Fiskus hat noch nie so viele Steuern eingenommen wie heute. Aber den Solidaritätszuschlag soll es weiter geben, obwohl das Land mittlerweile länger wiedervereinigt ist, als es durch die Mauer geteilt war. Dabei versprachen Union und SPD auch im jüngsten Wahlkampf, künftig den Spitzensteuersatz nicht schon von einem zu versteuernden Einkommen von etwa 54.000 Euro an erheben zu wollen. Doch weil CDU/CSU und SPD auch dieses Mal ihr Versprechen nicht einlösen werden, rückt der Spitzensteuersatz immer näher an den Durchschnittsverdiener heran. Wer heute nur das 1,6-fache des Durchschnittsgehalts verdient, muss bereits den Maximalsatz zahlen. 1960 war es das 18-fache.

          Weil netto so wenig vom Bruttogehalt übrig bleibt, fühlen sich vier von fünf Deutschen ungerecht entlohnt. Aber Politiker, Medien und Gewerkschaftsfunktionäre erzählen den Leuten, dass mehr Freizeit ihr größter Wunsch sei. Dabei kommt das Statistische Bundesamt zum gegenteiligen Schluss. Nach Merkels dritter Kanzlerschaft liegt die Steuerquote viel höher als am Ende der rot-grünen Schröder-Regierungsjahre. Statt den Steuerzahler endlich dort zu entlasten, wo es geboten ist, in der Mitte der Gesellschaft, nimmt der deutsche Wohlfahrtsstaat die Leistungsträger heute schon für Sozialleistungen in Höhe von 888 Milliarden Euro in die Pflicht, 100 Milliarden mehr als vor drei Jahren. Doch Bundeskanzlerin Merkel will die Mitte noch stärker schröpfen – die sie gewählt hat. Derweil jubiliert SPD-Chefin Nahles und rückt näher ans Kanzleramt.

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