Britische Einheitsversicherung : Tragödie in Großbritanniens Krankenhäusern
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Es fehlt Personal: Notfall in einem britischen Krankenhaus. Bild: mauritius images
Krebspatienten wird die Therapie gekürzt, der staatliche Gesundheitsdienst kollabiert. Die britische Einheitsversicherung liefert ein abschreckendes Beispiel für Deutschland.
Als Notstandsgebiet der Medizin war Oxford bisher nicht bekannt. Umso mehr schreckt jetzt eine Nachricht aus einer renommierten Klinik in der englischen Universitätsstadt die Briten auf: Ein leitender Arzt hat dort angekündigt, Chemotherapie-Behandlungen für Krebspatienten müssten rationiert werden, weil das Krankenhaus zu wenige qualifizierte Pflegekräfte habe. „Ich weiß, viele von uns werden sich schwer tun, diese Änderungen zu akzeptieren, aber unterm Strich ist die derzeitige Situation mit beschränkten Mitarbeiterzahlen nicht nachhaltig“, heißt es in einer Mitteilung des Leiters der Onkologie-Abteilung.
Horrorgeschichten aus dem chronisch überlasteten und unterfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienstleister National Health Service (NHS) sind die Briten gewohnt. Fast jeden Winter, wenn die Zahl der schweren Grippeerkrankungen steigt, bricht in dem System der Notstand aus. Aber, dass todkranken Krebspatienten die Behandlung gekürzt werden soll – das ist auch für britische Verhältnisse ein schockierendes Krisensignal.
Schlagzeilen machte auch der Tod einer Seniorin im englischen Seebad Clacton, die vergangene Woche starb, nachdem sie in ihrer Wohnung vier Stunden auf einen Notarztwagen warten musste. Am Neujahrstag musste in der Großstadt Portsmouth eine Patientin, die einen Schlaganfall erlitten hatte, sieben Stunden auf ein Krankenhausbett warten. Auch sie ist gestorben. Eine andere Patientin berichtete in der BBC von einer gynäkologischen Untersuchung auf einem überfüllten Krankenhausflur, weil kein Zimmer verfügbar gewesen sei.
Die Chefs des staatlichen Dienstes zogen mittlerweile die Notbremse: Im Januar wurden in ganz England alle nicht unbedingt erforderlichen Operations-Termine gestrichen. Rund 55.000 Patienten müssen deshalb bis nächsten Monat warten. Anders könne die hohe Zahl der medizinischen Notfälle von den Krankenhäusern nicht bewältigt werden, rechtfertigt der NHS die radikale Maßnahme, die zumindest in der jüngeren Vergangenheit in Großbritannien beispiellos ist.
Es hakt an allen Ecken und Enden
Wenn es im NHS brennt, dann wird es für die Politiker in London brenzlig. Kein anderer Bereich des Staates steht so sehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie der Gesundheitsdienst. Der vor 70 Jahren gegründete und für Patienten „kostenlose“ NHS gilt Millionen von Briten trotz seiner Schwächen als die stolzeste Errungenschaft ihres Sozialstaates: Anders als in Deutschland wird der öffentliche Gesundheitssektor im Vereinigten Königreich nicht über Sozialversicherungsbeiträge der Bürger, sondern aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert. Doch es hakt an allen Ecken und Enden.
Angesichts der Katastrophenmeldungen aus den Krankenhäusern hat eine Debatte über Reformen begonnen, die für Großbritannien geradezu revolutionär wären: die Einführung einer „NHS-Steuer“, mit deren Einnahmen ausschließlich das Gesundheitswesen finanziert werden soll. Faktisch wäre dies ein Systemwechsel – weg von der Steuerfinanzierung, hin in Richtung einer beitragsfinanzierten staatlichen Krankenversicherung.
Ändert Großbritannien die Finanzierung?
Aus deutscher Sicht interessant: Das britische Modell würde damit noch weiter der heftig umstrittenen „Bürgerversicherung“ ähneln, für deren Einführung hierzulande die SPD in den Sondierungen mit den Unionsparteien geworben hat. Die Sozialdemokraten wollen alle Bürger dazu verpflichten, einer solchen Einheitsversicherung beizutreten.
Die Diskussion in Großbritannien steht noch ganz am Anfang, aber Befürworter eines Systemwechsels argumentieren, dass dadurch eine verlässlichere Finanzierung für die NHS möglich sei. Ein finanzieller Obolus für den Gesundheitsdienst, der den meisten Briten trotz aller Schwächen lieb und teuer ist, wäre diesen wohl leichter zu vermitteln als eine Erhöhung der allgemeinen Steuern. Weitgehend unstrittig ist derweil unter Fachleuten dass der riesige Gesundheitsdienst, der mit rund 1,5 Millionen Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber der Welt ist, nicht nur effizienter werden muss, sondern auch mehr Geld braucht.
Gesundheitsökonomen rechnen vor, dass die finanziellen Nöte noch nie seit der Gründung im Jahr 1948 so groß waren wie heute. Der harte staatliche Sparkurs in Großbritannien in den vergangenen Jahren hat nicht zuletzt im Gesundheitssystem tiefe Spuren hinterlassen. Zwar ist das NHS-Budget, anders als in vielen anderen Bereichen des Staates, nicht gekürzt worden – aber die zusätzlichen Mittel waren lange nicht so hoch wie angesichts einer alternden und wachsenden Bevölkerung notwendig.
Großbritanniens Gesundheitssystem schneidet schlecht ab
Im europäischen Vergleich schneidet der britische Gesundheitsdienst schwach ab: Bei der Säuglingssterblichkeitsrate ist Großbritannien in der EU binnen 25 Jahren vom siebten auf den 19 Platz zurückgefallen. In Relation zur Bevölkerung gibt es 40 Prozent weniger Krankenpfleger und 30 Prozent weniger Ärzte als in Deutschland. Das liegt auch daran, dass aus Kostengründen zu wenig Fachkräfte ausgebildet wurden. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen sind um ein Viertel niedriger als hierzulande. Wer es sich leisten kann, legt sich eine private Krankenversicherung zu, doch neun von zehn Briten sind allein auf den NHS angewiesen.
Die Krise in den Krankenhäusern hätte den britischen Gesundheitsminister Jeremy Hunt diese Woche beinahe den Job gekostet: Premierministerin Theresa May wollte Hunt im Rahmen einer Kabinettsumbildung eigentlich ins Wirtschaftsministerium versetzen. Doch dieser weigerte sich seinen Posten aufzugeben – und konnte dies gegenüber der politisch geschwächten Regierungschefin auch durchsetzen. May bezeichnete die massenhafte Verschiebung von Operationen als „enttäuschend“. Sie sagte aber auch, der Gesundheitsdienst sei diesen Winter „besser vorbereitet als jemals zuvor“.