
Gewerkschafts-Marketing : Die Plünderung der Tarifautonomie
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Korrekt bezahlt? Bild: dpa
Der Deutsche Gewerkschaftsbund rechnet vor, dass den Sozialversicherungen „durch Tarifflucht und Lohndumping jährlich etwa 30 Milliarden Euro verlorengehen“. Nicht nur die Begriffe sind höchst fragwürdig.
Über wen soll man sich mehr wundern: den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) oder über Medien, die derlei wie Lautsprecher verbreiten? Die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls hat soeben unter Berufung auf den DGB mitgeteilt bekommen, dass den Sozialversicherungen „durch Tarifflucht und Lohndumping jährlich etwa 30 Milliarden Euro verlorengehen“. Mit anderen Worten: Durch eine hundertprozentige gesetzliche Zwangsbindung aller Betriebe und Beschäftigten an das, was sich die DGB-Gewerkschaften als Tarifverträge vorstellen, hätten Renten-, Kranken-, Pflege und Arbeitslosenversicherung volle Kassen – und die finanziellen Probleme wären gelöst.
Der rot-grüne Teil der Koalitionsverhandler wird das sicher gerne hören, da es ihre vom DGB inspirierten Wahlversprechen zu bestätigen scheint, nämlich, dass mehr Unternehmen zwangsweise an Regelwerke Dritter gebunden werden sollen, die nach Einschätzung dieser Unternehmen eigentlich nicht zu ihren betrieblichen Verhältnissen passen. Es ist ein vermutlich wirkungsvoller Beitrag, um die im Sondierungspapier der Ampel-Verhandler (auch) angekündigte Stärkung der Tarifautonomie zu bekämpfen.
Allein schon der in Gewerkschaftskreisen beliebte Begriff „Tarifflucht“ fällt unter das, was man neudeutsch „Framing“ nennt: Es unterstellt Betrieben, die nicht an den gewünschten Tarifvertrag gebunden sind, irrationale, im Zweifel unlautere Motive. Natürlich ist es das gute Recht von Gewerkschaften so etwas zu behaupten, und es mag im Alltag sogar vorkommen. Aber spätestens die Verknüpfung des Begriffs „Tarifflucht“ mit einer Berechnung, die hundertprozentige Tarifbindung unterstellt, macht daraus politische Kampagne. Eine klassische journalistische Aufgabe ist das nicht.
Die DGB-Gewerkschaften verlieren beständig Mitglieder
Wie kommen Tarifverträge eigentlich zustande? Im Grundsatz so: Arbeitnehmer in einem Betrieb organisieren sich in Gewerkschaften, um sich gemeinsam für höhere Löhne und günstigere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Notfalls setzen sie ihre Arbeitgeber mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Instrument des Streiks so unter Druck, dass sich diese zum Abschluss eines Tarifvertrags bereitfinden. Demgegenüber gibt es aber kein verbürgtes Recht für Arbeitnehmer, dass sich ihr Arbeitgeber freiwillig irgendwelchen Regelwerken unterwirft, die andere Arbeitgeber mit anderen Arbeitnehmervertretern abgeschlossen haben.
Ein Aspekt der Realität ist, dass der Anteil der Beschäftigten, deren Betriebe an Tarifverträge gebunden sind, in den vergangenen Jahren gesunken ist. Etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeiten heute in tarifgebundenen Betrieben, zur Jahrtausendwende waren es noch etwa 60 Prozent. Ein weiterer Aspekt der Realität ist allerdings: Die DGB-Gewerkschaften verlieren beständig Mitglieder. Ausweislich der Aufstellungen des DGB ist deren Zahl seit der Jahrtausendwende von 7,7 Millionen auf weniger als sechs Millionen gesunken. Kaum ein Siebtel der Beschäftigten ist heute noch gewerkschaftlich organisiert. In den 1970er-Jahren waren es einmal annähernd 40 Prozent.
Seltsamerweise gibt es hierzulande kaum eine Diskussion darüber, welche Verbindung zwischen sinkenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften und sinkender Tarifbindung besteht. Anstatt sich der Frage zu stellen, wie sie selbst wieder mehr Beschäftigte für ihre Tätigkeit gewinnen könnten, rufen sie – immer wieder mit unkritischer politischer und medialer Begleitung – nach mehr „Tarifbindung“ durch den Staat. Könnte es nicht vielleicht sein, dass schwache Gewerkschaften auch deshalb schwach sind, weil sich Menschen von ihrer konkreten Arbeit nicht vertreten sehen? Nur zum Beispiel: Was sollen Beschäftigte privater Pflegeeinrichtungen von der Gewerkschaft Verdi halten, die auf eine Verstaatlichung des Pflegewesens hinarbeitet?
Die Tarifbindungspolitik des DGB und seiner Mitstreiter zielt (auch) darauf, solche Diskussionen möglichst nicht mehr führen zu müssen. Ein schrumpfender Zirkel von Tarifpolitikern soll die Macht bekommen, den Inhalt eines vermeintlich branchenweiten Interessenausgleichs vorwegzunehmen und verbindlich zu bestimmen. Das Mindeste, was einem solchen Umbau gesellschaftlicher Entscheidungswege vorausgehen müsste, wäre eine breiter und offener Diskurs. Die politische Unterstellung, Arbeitgeber mit abweichender Meinung plünderten die Sozialkassen aus, ist gewiss kein Beitrag dazu, eher das Gegenteil.
Daneben lässt sich die scheinbar spektakuläre DGB-Berechnung natürlich auch noch ökonomisch in Zweifel ziehen: Glaubt irgendwer ernsthaft, dass es keine Auswirkungen auf die Sicherheit von Arbeitsplätzen hätte, wenn schlagartig – zum Beispiel – allen Autozulieferern in der Transformationskrise vorgeschrieben würde, sich den ungeschmälerten IG-Metall-Tarif mit 35-Stunden-Woche und „vollem Lohnausgleich“ zu leisten? Mit derselben Logik werden der DGB und seine medialen Mitstreiter wohl als nächstes behaupten, die Wirtschaft plündere die Sozialkassen aus, weil sie nicht ihrer „moralischen Pflicht“ nachkomme, allen Arbeitslosen vorbehaltlos und unbefristet (natürlich tarifgebundene) Arbeitsverhältnisse zu gewähren.