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Das geteilte Land

Von RALPH BOLLMANN und INGE KLOEPFER
Arzberg in Oberfranken, abgehängt: Das ehemalige Werksgelände von Schumann Porzellan ist heute eine Brache. Foto: Roger Hagmann

28.02.2018 · In Deutschland driften die Regionen wirtschaftlich immer mehr auseinander: Die einen profitieren von der Globalisierung, die anderen werden abgehängt.

U nd das soll Deutschland sein? Das Land, das wir aus der Zeitung kennen, dem Fernsehen, den staunenden Berichten von Touristen wie von Wirtschaftsforschern? Es geht uns gut, tönt es allenthalben, der Export boomt, mit den Löhnen geht es bergauf, der Konsum gedeiht prächtig. Die Deutschen haben obendrein die Lebenslust entdeckt, gelten mittlerweile zwischen Lissabon und Helsinki als die coolsten Europäer, in einem Land, in dem sie „gut und gerne leben“, wie die Bundeskanzlerin im Wahlkampf befand. Vielleicht wird sogar irgendwann das Wetter besser, ein Kollateralnutzen des Klimawandels.

Hier, im oberfränkischen Arzberg, sieht es nicht danach aus, als gehörte die Stadt zu dem so beschriebenen Land. Im Zentrum der Stadt steht die Mehrzahl der Geschäfte leer, einige Häuser an der Hauptstraße sind bereits abgerissen. Von den drei großen Porzellanfabriken ist keine einzige mehr in Betrieb, auch das große Kraftwerk wurde vor einem Jahrzehnt gesprengt. Von den einst 10.000 Einwohnern ist gerade noch die Hälfte übrig, die Mittelschule gibt es nicht mehr, vor ein paar Jahren sollte sogar der einzige Kindergarten schließen. Wer in dieser Region nach Attraktionen sucht, fährt lieber über die Grenze ins tschechische Eger, wo 1634 der General Wallenstein von seinen Offizieren ermordet wurde. Stefan Göcking, Bürgermeister seit mehr als einem Jahrzehnt und Sozialdemokrat, kann die Fragen nach dem Niedergang schon gar nicht mehr hören.

Deutschland, keine Frage, hat von der Globalisierung enorm profitiert, wahrscheinlich mehr als jede andere der alten Industrienationen. Nach einem kurzen Einheitsboom litt das Land zwar an den Lasten der Wiedervereinigung und an dem kühlen Wind, der durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs von Osten herüberwehte. Aber rasch stellten sich die Betriebe darauf ein, profitierten sogar von der neuen Arbeitsteilung auf dem Kontinent und frischen Absatzmärkten etwa in China. Wenn Wirtschaftsforscher ihre Landkarten zeichnen, finden sie in Deutschland so viele Gewinnerregionen wie kaum irgendwo sonst.

Ob es nun Wirtschaftsmetropolen wie München, Stuttgart oder Frankfurt sind, die Maschinenbauer in Schwaben oder Ostwestfalen, neuerdings sogar Leipzig oder die lange darbende Hauptstadt Berlin: überall glänzt es, mit dem Nebeneffekt, dass Wohnungsmieten und Kaufpreise von Jahr zu Jahr steigen. Sogar die Zahl der benachteiligten Viertel in den Städten nimmt ab, die vielbeklagte Gentrifizierung führt zur Durchmischung. Inzwischen haben nicht mehr die Großstädte das größte Problem mit der Sozialstruktur, wie man lange dachte, sondern die abgehängte Provinz. Denn nicht allen nützen die weltweite Vernetzung und der Wegfall vieler Handelsschranken gleichermaßen. Schwer haben es Regionen mit Produkten, die kein großes Knowhow erfordern, weshalb es umso mehr auf die Lohnkosten ankommt. Dazu zählte die Schwerindustrie des Ruhrgebiets, die schon in der alten Bundesrepublik ihre Krise erlebte, die Textilbranche am linken Niederrhein, die Schuhfabriken in der Hinterpfalz – oder eben Oberfranken mit seinem Fokus auf Keramik, Spielwaren, einfachen Haushalts- und Elektroartikeln. Im Hochlohnland Deutschland sind diese Branchen international schon lange nicht mehr konkurrenzfähig, weil andere Länder längst in der Lage sind, solche Produkte zu günstigeren Kosten herzustellen. So drängen Importe auf den deutschen Markt, und die einst erfolgreichen regionalen Unternehmen verschwinden hierzulande. Bei den Porzellanfabriken in Arzberg kam erschwerend hinzu, dass auch das Produkt selbst keiner mehr haben will: Wer heute einen Hausstand gründet, holt sich das Billiggeschirr von Ikea. Als Hochzeitsgeschenk gibt es eine Weltreise, kein Sonntagsservice für die Ewigkeit.

Die Globalisierungsgewinner und -verlierer in Deutschland

Westdeutsche und ostdeutsche Landkreise, West: Untersuchung von 1978 bis 2014; Ost: Untersuchung von 1994 bis 2014 Karte: F.A.Z.-Grafik Walter / Quelle: Prof. Jens Südekum, Düsseldorf Institute of International Economics

So kommt es zu einer paradoxen Entwicklung. Seit 1990 wird die Welt global gleicher, weil immer mehr Länder der einstmals Dritten Welt den Anschluss an die Industrienationen schaffen. Aber innerhalb der alten Industrienationen wächst die Ungleichheit. Als die armen Länder aufzuholen begannen, tat sich plötzlich eine Kluft auf, welche die reichen Volkswirtschaften durchzieht. Das Erstaunlichste daran ist: Deutschland ist eines der Länder mit den größten regionalen Gegensätzen. Nach den Daten der OECD, der Organisation der entwickelten Länder, klafft die Wirtschaftsleistung der reichsten und der ärmsten Regionen nirgends so weit auseinander wie hierzulande, abgesehen vom Vereinigten Königreich. Ausgerechnet im reichen und als föderal-egalitär geltenden Deutschland ist der Abstand zwischen Gewinner- und Verliererregionen besonders groß. Das ergibt sich, wenn man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verschiedener Regionen vergleicht. Mehr noch: Die Kluft wächst.

Für das Auseinanderdriften der Regionen finden sich handfeste wirtschaftliche Gründe. Die liegen in jüngster Zeit vor allem darin, dass die Boom-Regionen die Verlierer hinter sich lassen. Sie ziehen ihnen regelrecht davon. „Die Regionen mit einer starken Konzentration exportorientierter Branchen profitieren am stärksten vom Aufstieg der neuen Absatzmärkte“, sagt der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum. Der Clou seiner These ist: Gerade die starke internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft treibt Gewinner- und Verliererregionen immer weiter auseinander. Sie befördert eben Importe und Exporte, drückt die einen Regionen nach unten, während sie die anderen nach oben zieht. Die große regionale Diskrepanz haben vor allem die Aufsteiger zu verantworten.

Ungewöhnlich ist in Deutschland, dass es viele Gewinnerregionen gibt – Gegenden, deren Branchen „einen komparativen Vorteil gegenüber anderen Ländern“ haben, wie Südekum sagt: die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die Herstellung anderer Investitionsgüter. Und zwar nicht nur in Ballungsräumen. Auch in kleineren Orten wie Eichstätt, Vechta oder Landshut ist das zu spüren. Entsprechend ist die Zahl der Verliererregionen gering, dafür aber drohen sie immer weiter zurückzufallen, einfach deshalb, weil die anderen so erfolgreich sind. Deutschland war immer stolz auf seinen Föderalismus und die Vielfalt seiner Regionen; die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse genießt sogar Verfassungsrang. Außergewöhnlich war lange Zeit nicht so sehr, dass Deutschland über mehrere Zentren verfügt – das gibt es in anderen Staaten auch. Das Besondere war, dass gerade auch in sehr abgelegenen Regionen wichtige Dinge passierten, ob in der Wirtschaft die oberfränkische Porzellanfabrik einen Weltruf genoss oder ob sich in der Kultur die Eliten in einer thüringischen Kleinstadt namens Weimar versammelten.

Die Reichen werden immer reicher

Grafik: F.A.Z./Walter; Quelle: Prof. Jens Südekum, Düsseldorf Institute of International Economics

Damit scheint es vorbei zu sein in einer Zeit, in der vor allem Jüngere und Familien in die großen Ballungszentren drängen. Das verstärkt die Kluft. Angeblich verlieren reale Orte in Zeiten moderner Kommunikationsmittel an Bedeutung, weil der Anschluss an die große Welt nirgends verlorengeht. In Wahrheit verstärken gerade die sozialen Medien im Netz die Anziehungskraft des urbanen Lifestyles. Wenn die Altersgenossen auf Instagram zu vermeintlich lässigen Fotos verkünden, der Umzug nach Köln oder Leipzig sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, glauben es manche im oberfränkischen Oberkotzau oder dem brandenburgischen Pitschen-Pickel gern.

A uch die beruflichen Möglichkeiten und die Bildungschancen für die eigenen Kinder treiben diejenigen aus den benachteiligten Regionen in die Ballungszentren, die sich mehr erhoffen als ein kostengünstiges Leben, weil ein Bier in der Dorfkneipe gerade mal 1,80 Euro kostet. Wer jeden Tag sieht, was ihm Berlin oder München angeblich bieten könnten, der will irgendwann auch dorthin. In den Metropolregionen sind die Folgen dieses Sogs zu spüren – nicht nur in den angesagten Vierteln mit Chic und buntem Nachtleben. Seit geraumer Zeit steigen sogar in München-Hasenbergl die Mieten. Das Hasenbergl war über Jahrzehnte ein sozialer Brennpunkt. Generationen junger Zeitungsreporter wurden hingeschickt, um im reichen München Geschichten über eine Problemzone zu liefern.

München boomt. Selbst das Hasenbergl, lange Inbegriff des „sozialen Brennpunkts“, wird jetzt schick. Foto: DIZ

Doch die soziale Mischung ändert sich. „Es ist hier sehr grün. Man kann hier gut wohnen – vor allem Familien mit Kindern ziehen hierher“, sagt Manuela Massaquoi, die für die SPD im Bezirksausschuss Feldmoching-Hasenbergl sitzt und seit mehr als 20 Jahren in Hasenbergl wohnt. Seit es die Anbindung durch die U-Bahn gibt, ist man in elf Minuten im beliebten Schwabing. Dazu hat das Hasenbergl eine neue Mitte: ein modernes Kulturzentrum als Veranstaltungsort mit einer sehr gut besuchten Stadtbibliothek, die auch am Wochenende frequentiert wird. Daneben ein neuer Edeka mit Backstube und Café – alles andere als billig. „Auch der Edeka“, sagt Massaquoi, „wird gut angenommen.“

Wer durchs Hasenbergl läuft, fühlt sich in die sechziger Jahre versetzt. Kreuz und quer stehen auf leicht hügeligem Terrain unzählige viergeschossige Wohnblöcke mit Garagenhöfen davor. Dazwischen finden sich die Hochhäuser mit bis zu 15 Stockwerken, das „Markenzeichen“ des einst berüchtigten Viertels, das vor sechs Jahrzehnten als klassische Wohnsiedlung entstand. 1957 war München zur Millionenstadt aufgestiegen, die Stadt brauchte Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen und für die vielen Kriegsflüchtlinge. 96 Prozent der Wohnblöcke, die dort entstanden, waren öffentlich gefördert. So mehrten sich über die Zeit genau jene sozialen Probleme, die mit schwachen Einkommenslagen und Bildungsferne einhergehen: Kriminalität allenthalben, Rockerbanden trieben ihr Unwesen, Trostlosigkeit prägte das Bild.

Heute sind die Gebäude saniert, die Straßen blitzsauber, die Spielplätze zahlreich. Auch an den Autos lässt sich der Wohlstand ablesen: BMW, Audi, VW und Mercedes – viele Kombis sind darunter. Der konstante Zuzug in den grünen Stadtteil mit den drei Seen drum herum macht eine Nachverdichtung nötig. „Die Frage ist, wie wir hier den Spagat schaffen zwischen denen, die zuziehen, und denen, die seit Jahrzehnten hier wohnen“, sagt Lokalpolitikerin Massaquoi, deren Eltern einst als Vertriebene aus dem schlesischen Schweidnitz kamen.

Mobil sind meist die besser Gebildeten. Wenn sie die Einöde brachliegender Regionen verlassen und sich sogar in den vermeintlich benachteiligten Vierteln großer Städte niederlassen, ändert sich dort die Durchmischung. Seit einigen Jahren kämpft das Hasenbergl für ein Gymnasium. Früher reichte die Hauptschule. Heute finden sich an der Gesamtschule genügend Kinder, die zum Abitur drängen und nicht in den nächsten Stadtteil fahren sollen. Elterninitiativen haben sich gegründet, um die Idee eines eigenen Gymnasiums bis in den Stadtrat zu tragen. Inzwischen ist das so gut wie beschlossen: 2019 sollen zunächst Container aufgestellt werden, bis auf dem Gelände für die neue Schule gebaut werden kann.

Beunruhigend ist es für diejenigen, die zurückbleiben. Lange Zeit hat sich die Politik in den westlichen Industriestaaten dafür nicht interessiert. Seit der Brexit-Abstimmung und der Wahl Donald Trumps, seit den relativen Erfolgen des Front National in Frankreich und der AfD in Deutschland sind die übrigen Parteien aufgewacht. Einen linearen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Problemen und Wählervotum sehen die Sozialforscher zwar nicht. Aber in der Tendenz ist doch offensichtlich: Solche Protestbewegungen finden vor allem dort Zulauf, wo viele Menschen ihre Erwartungen und Ansprüche nicht erfüllt, vielleicht nicht einmal wahrgenommen sehen.

„Es verlassen vor allem jene die benachteiligten Regionen, die über eigene Ressourcen verfügen“, sagt der Münchener Soziologe Stephan Lessenich, der viel über Spaltungslinien der Gesellschaft geforscht hat. Also Menschen mit einem gewissen Bildungsstand und Netzwerken. Im Hasenbergl könnte er das wahrscheinlich genau studieren. In den abgehängten Regionen führe das zu einer Abwärtsspirale, denn es blieben in der Regel die, die schlechter gestellt sind. Damit blute nicht nur die Region aus. Auch diejenigen, die zurückblieben, hätten weniger Chancen.

Homogene Sozialstrukturen aber helfen den Abgehängten nicht. Nicht erst aus der Soziologie weiß man: Es können regionale Spiralen entstehen, in denen sich Auf- und vor allem auch Abwärtsbewegung verstärken. Wer heute das Pech hat, in einer abgehängten Region geboren zu werden und aufzuwachsen, wird auf Dauer weniger Chancen haben, aus seinem Leben etwas zu machen: Sag mir, woher du kommst, und sich sage dir, was aus dir wird. „Wichtig ist die Aufrechterhaltung vieler verschiedener Einrichtungen öffentlicher Daseinsvorsorge mit Schulen und Fachhochschulen, Berufsberatung oder Jobcenter, Post und vielem mehr“, sagt Lessenich. „Vernetzte Lösungen sind hier wichtiger als Leuchtturmprojekte.“ Die Vorhaben müssten in regionale Strukturen eingebunden sein, damit die Negativspirale ihren Sog verliert. So macht es jetzt auch Oberfranken: Der Freistaat gründete in Hof eine Fachhochschule. Und er spendierte eine Anschubfinanzierung für Forschungszentren, die den heimischen Betrieben helfen, auf andere Produkte umzusatteln. Neue Jobs sollen Rückkehrer anlocken, denen München zu hektisch und zu teuer geworden ist.

Der „Raumordnungsbericht“ der Bundesregierung, in früheren Zeiten eine eher spezielle Lektüre für wenige Fachleute, brachte es im vorigen Herbst zu einer ganzen Seite in der „Bild“-Zeitung. Es ging um die Entfernung zum Arzt, zum nächsten Supermarkt, zur Bushaltestelle. Neun Millionen Menschen in Deutschland, so die Forscher, hätten keinen adäquaten Zugang zum öffentlichen Nahverkehr; in den Ballungszentren sind hingegen 95 Prozent der Bevölkerung angeschlossen. Die städtischen Eliten reden schon über den Abschied vom Auto, die Landbewohner sind weiterhin darauf angewiesen: Auch bei diesem Thema reden beide Gruppen aneinander vorbei.

Nicht ohne Grund haben Union und SPD die regionale Ungleichheit zu einem zentralen Thema ihres Koalitionsvertrags gemacht. „Wir werden Strukturschwächen im ländlichen Raum, in Regionen, Städten und Kommunen in allen Bundesländern bekämpfen“, schreiben sie – und bekräftigen zugleich das Verfassungsziel der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“, das zuletzt schon als kaum noch realisierbar galt. Auch durch die übrigen Kapitel zieht sich das Thema, ob es nun ums Verlegen von Breitbandkabeln fürs schnelle Internet geht, um die Entschuldung armer Kommunen oder den Ausbau der Verkehrswege.

Ob es hilft? Viele Milliarden sind in Deutschland in die Förderung schwacher Regionen geflossen. Das Wirtschaftsministerium kommt in einer Aufstellung auf 47 Milliarden Euro, die im Zeitraum von 1991 bis 2016 der Regionalförderung zugutekamen. Das Ziel ist seit Jahren dasselbe: Regionale Investitionen sollen gefördert werden, damit der temporäre Geldsegen eine in sich selbsttragende Entwicklung in Gang setzt, damit Arbeitsplätze und Wohlstand entstehen und schwache Regionen nicht den Anschluss verlieren. Doch wenn sich der Abstand zwischen Gewinner- und Verliererregionen fortlaufend vergrößert, steht die Effizienz des Geldsegens in Frage.

Wird auch Deutschland also auf Dauer ein Land werden, in dem Regionen verwaisen? Das kommt auch auf die richtige Politik an. Tatsächlich kann man gegen das Auseinanderdriften etwas tun. Wie wirkungsvoll Regionalförderung sein kann, zeigte sich im Zonenrandgebiet zu Zeiten der deutschen Teilung, zu dem auch beträchtliche Teile von Oberfranken gehörten. Der 40 Kilometer breite Streifen westlich der Mauer eignet sich besonders gut zu Forschungszwecken, weil hier versucht wurde, die durch die Mauer bedingten regionalen Nachteile auszugleichen. Natürlich mit staatlichen Anreizen und Investitionen. Und weil unmittelbar außerhalb des 40 Kilometer breiten Fördergebiets entlang der „Zonengrenze“ Orte lagen, denen die Förderung gerade nicht zuteilwurde. Vergleichsmöglichkeiten zur Beurteilung von Wirtschaftsförderung waren also reichlich gegeben.

Die Förderung habe tatsächlich „zu einem sprunghaften Anstieg wirtschaftlicher Aktivität in diesem Gebiet geführt“, heißt es in einer Studie des Münchener Ifo-Instituts. Allerdings ging die höhere Dynamik in den Förderregionen zu Lasten angrenzender, nicht geförderter Regionen. Entsprechend ernüchternd fällt das Urteil der Wissenschaftler für die gesamte Bundesrepublik aus. Es könnte sein, dass der Nettoeffekt solcher Politikmaßnahmen null war. Überträgt man dieses Ergebnis auf Gesamtdeutschland heute, könnte man zweierlei ableiten. Erstens: Es kann gelingen, zurückgefallene Regionen derart zu fördern, dass sie den Anschluss nicht ganz verlieren. Zweitens: Für ganz Deutschland könnte das ein Nullsummenspiel sein, weil andernorts weniger Wachstum erzeugt wird. Und das Land bleibt weiter geteilt.

Ohnehin wird in den abgehängten Regionen häufig eine falsche Förderpolitik betrieben. Keinesfalls dürfe sie sich in Sozialtransfers und der Erhaltung überflüssiger Arbeitsverhältnisse erschöpfen, die die Verhältnisse noch zementieren, schreiben die Ifo-Autoren – so wie man es im Ruhrgebiet über Jahrzehnte und bis vor gar nicht so langer Zeit auch noch in Arzberg beobachten konnte. Im Ruhrgebiet haben die Menschen nach dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie vielerorts noch immer nicht die Kurve bekommen. Es ist offenbar schwer, den alten Pfad zu verlassen: Eine hundert Jahre währende Tradition der Fürsorge prägt die Erwartungshaltung der Menschen bis heute. Die Bodenschätze begründeten eine Industrie, die im patriarchalischen Selbstverständnis der Ruhrbarone das Leben ihrer Arbeiter organisierte. Die großen Konzerne sorgten sich um deren Wohlergehen. Sie füllten nicht nur die Lohntüten, sondern bauten Häuser, Sportclubs und Erholungsheime, organisierten damit auch das Sozialleben.

Später kamen SPD und Gewerkschaften und verfolgten eine Politik sozialer Wohltaten. Auch sie suggerierten der Bevölkerung, dass sich schon jemand um sie kümmern werde. Im Strukturwandel wäre dagegen Eigeninitiative gefragt. Damit tun sich im Ruhrgebiet viele schwer. Im Grunde warten die meisten immer noch darauf, dass sich irgendjemand ihrer annimmt. Unternehmer, die versuchen, das Ruder herumzureißen, und in Felder wie Logistik, Digitalisierung und Hightech investieren, haben Mühe, andere mitzuziehen.

Auch in Arzberg trauerten die Menschen, die einst ihre Jobs in der Porzellanindustrie verloren, der alten Zeit lange hinterher. Bürgermeister Göcking weiß davon zu berichten, sein Vater arbeitete in der Fabrik, er selbst jobbte dort in den Ferien. Göckings Tochter, die ihr Berufsleben auf dem Flughafen in Hof begann, zog nach Frankfurt um, als der Linienverkehr in Oberfranken vor Jahren eingestellt wurde. „Baue mir einen Flughafen“, pflegt sie zu ihrem Vater zu sagen, „dann komme ich zurück“. Vermutlich muss eine ganze Generation vergehen, bis sich die Menschen von dem Schock des regionalen Niedergangs erholen, nicht nur auf regionale Förderung warten, sondern auch selbst die Initiative ergreifen. Das ist – bei aller Förderung – die zweite Voraussetzung, den Anschluss nicht zu verlieren: Eigeninitiative.

Inzwischen mischt sich Hoffnung in die Trostlosigkeit der vergangenen Jahrzehnte. Sie scheinen aufgewacht zu sein in dem oberfränkischen Ort, und sie haben einiges getan, um den Abwärtstrend zu stoppen. Nach älteren Prognosen aus der Dunkelzeit sollte die Stadt heute nur noch 3000 Einwohner zählen, in Wahrheit sind es jetzt mehr als 5000. Der Abriss des Kindergartens ist abgesagt, vor kurzem musste der Stadtrat einen Erweiterungsbau beschließen. Kamen eine Zeitlang nur zehn Kinder im Jahr zur Welt, so sind es jetzt 30 bis 40. Eine private Bildungseinrichtung hat das leerstehende Gebäude der Mittelschule übernommen. Auf einem alten Werksgelände sollen Werkstatt und Wohnheim für geistig Behinderte entstehen.

Auch die Abrisspläne für das letzte noch vorhandene Fabrikgebäude hat der Bürgermeister gestoppt, weil sich Mieter für die leerstehenden Etagen fanden. Wo früher Tassen und Teller entstanden, hat sich jetzt ein Produzent modischer Fahrräder einquartiert. Womöglich ist es der Anfang einer Wende, damit sich der Abstand zu den Boom-Regionen zumindest nicht noch weiter vergrößert.

Quelle: F.A.S.

Veröffentlicht: 28.02.2018 12:33 Uhr