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Chaos bei der Bahn : „Ich fahre diesen Zug nur unter Protest“

Vielleicht hilft Meditation beim Blick aufs Wattenmeer? Bahn-Fahrgäste sind einiges an Kummer gewohnt. Bild: Jens Gyarmaty

Das Image der Deutschen Bahn mag miserabel sein, aber die Zugbegleiter reißen es immer wieder heraus – mit gnadenloser Ehrlichkeit.

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          Bei der Deutschen Bahn passieren inzwischen Dinge, die man lange nicht für möglich gehalten hätte: „Sehr geehrte Damen und Herren, weil ich gerade aus dem Fenster geschaut habe und ich die Strecke nicht kannte, habe ich einmal bei der Leitzentrale nachgefragt“, tönte es jüngst mit entwaffnender Ehrlichkeit über das Bordmikro eines ICE. Die Erklärung für dieses Malheur lieferte der Zugbegleiter mit vergleichbarer Offenheit sofort hinterher: „Wir wurden umgeleitet und nicht darüber informiert.“ Die Erkenntnis, dass auch ein ICE von der Spur abkommt, ist schon ungewöhnlich, aber womöglich sogar ein Ausweis von Flexibilität. Ungewohnter, wenn auch nicht völlig neu, ist die spröde Ehrlichkeit, mit der die Mitarbeiter die Unzulänglichkeiten der Deutschen Bahn offenlegen: „Wir werden jetzt evakuiert. Wann wir genau wo ankommen, weiß nicht einmal der Fahrdienstleiter.“

          Corinna Budras
          Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.

          Natürlich handelt es sich nur um anekdotische Evidenz, aber die Häufigkeit, mit der die Zuggäste durch solche Ansagen informiert, mitunter sogar bestens unterhalten werden, nimmt deutlich zu. Wo früher „Störungen im Betriebsablauf“, „Verspätungen aus vorheriger Fahrt“ oder „witterungsbedingte Beeinträchtigungen“ regierten, bricht sich jetzt das heiter vorgetragene Geständnis Bahn: „Der Lokführer ist wegen eines anderen verspäteten Zuges noch nicht eingetroffen. Wir blockieren gerade das Gleis für seinen Zug. Wir sind selbst gespannt, wie das aufgelöst wird.“

          Erfahrene Eisenbahner haben dafür gleich mehrere Erklärungen. Die erste ist offensichtlich: je schlechter die Performance, desto facettenreicher die Entschuldigungen. Wer nicht zu spät kommt, braucht keine Ausrede, schon gar keine unterhaltsame. Es sei denn, die Erfolgsquote ist so schlecht, dass auch eine planmäßige Ankunft für Erheiterung sorgt. Auch damit kann die Bahn immer häufiger punkten.

          Die schlechte Performance hat viele Gründe

          Verspätungen von einer Stunde und mehr haben dagegen meist mehrere Ursachen. Wo viel passiert, kann man viel berichten. Und die Performance der Deutschen Bahn ist derzeit denkbar schlecht: Gerade einmal 61 Prozent der Fernverkehrszüge haben im November pünktlich ihr Ziel erreicht, und in diese unsägliche Statistik fließen übrigens noch nicht einmal die Zugausfälle ein, die sich derzeit zu häufen scheinen.

          Die Gründe für die Misere sind weithin bekannt: Das Streckennetz ist marode und muss dringend generalsaniert werden. Selbst das Bahn-Management räumt inzwischen offen ein, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig investiert wurde. Neben den vielen – planmäßigen – Baustellen, kommen immer wieder andere Störfaktoren hinzu: Mal müssen kurzfristig Betonschwellen im ganzen Land überprüft und ausgetauscht werden, dann blockiert ein Güterzug, beladen mit Propangas, nach einem Unfall über Wochen einen wichtigen Streckenabschnitt.

          Die neue Offenheit, gewürzt mit einer Prise Galgenhumor, kann man auf die simple Empörungsschlagzeile bringen: Bahn-Mitarbeiter machen sich über das Chaos lustig und verhöhnen die Fahrgäste. Allerdings berücksichtigt das nicht die zweite Erklärungsebene für diesen Trend – und die müsste den Staatskonzern fast noch mehr beunruhigen als das selbstverschuldete Unvermögen: Die Mitarbeiter haben die Eskapaden ihres Arbeitgebers satt. Sie schämen sich für die schlechte Performance, die sie schließlich auch selbst trifft: „Unser Zug kann heute nicht weiterfahren: Vor uns steht ein anderer Zug, der kaputt ist. An dem kommen wir nicht vorbei.“

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