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Verbraucherschutz : Der Vormund

Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, schützt Mieter, Kleinanleger und Joghurtkäufer. Bild: Jens Gyarmaty

Gerd Billen war einst oberster Verbraucherschützer. Jetzt ist er ins Justizministerium umgezogen und will den Verbraucherschutz komplett umgestalten. Im Auftrag der Regierung stellt er fest: Den mündigen Bürger gibt es nicht.

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          Das Leben als Kunde ist eine Herausforderung. Das weiß jeder, der einen günstigen Handyvertrag abschließen will. Oder einen Stromvertrag. Noch größer ist das Unbehagen bei der privaten Altersvorsorge. Jahrzehntelang ist man an einen Vertrag gebunden, der nicht ansatzweise das hält, was der Versicherungsberater einst versprochen hat.

          Corinna Budras
          Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.

          In diesen Situationen fühlt sich der Verbraucher schnell überfordert und allein. Kaum einer weiß das besser als Gerd Billen. Sechs Jahre lang war er Deutschlands oberster Verbraucherschützer, saß im Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband. Dort kämpfte er kalauernd gegen Abofallen im Internet („World-Wide-Nepp“) und schredderte vor dem Kanzleramt in Berlin symbolisch die Papiere von Finanzprodukten. Jetzt muss der 59 Jahre alte Sozialwissenschaftler nicht mehr kämpfen, jetzt kann er gestalten. Seit etwas mehr als einem Jahr sitzt Billen in der Bundesregierung, als beamteter Staatssekretär im neuen Verbraucherschutzministerium.

          Seitdem arbeitet er an einer „neuen Architektur des Verbraucherschutzes“, wie er es nennt, nüchtern und unaufgeregt, so wie Billen ist. „Natürlich: Wer mit 18 Jahren wählen kann, sollte auch fähig sein, sich einen Joghurt auszusuchen“, findet Billen. „Sollte“, sagt er. Und während man noch darüber grübelt, wie viel Zweifel in dieser Formulierung zum Ausdruck kommt, fügt er an: Aber das Leitbild von dem mündigen Bürger müsse man „weiterentwickeln“.

          Weiterentwickeln sagen Politiker stets dann, wenn sie Bevölkerung oder Lobbygruppen die Wahrheit lieber nicht als Ganzes präsentieren möchten, sondern behutsam, Stück für Stück. Im Klartext bedeutet es, dass die Bundesregierung künftig von Produkt zu Produkt entscheiden möchte, ob sich der Verbraucher beim Vertragsschutz allein durchschlagen kann oder der Staat ihm zu Hilfe eilen muss. Zwischen Herrensocken und hochriskanten Aktiengeschäften ist das Kompetenzgefälle schließlich gigantisch.

          Das ist keine Petitesse, sondern eine Umkehr. Wenn die Bundesregierung schon an der Fähigkeit von erwachsenen Bürgern zweifelt, sich Joghurt zu kaufen, bleibt das nicht ohne Folgen. Für Kritiker ist Billen das Gesicht des Paternalismus in der großen Koalition. Wer unmündig ist, der muss an die Hand genommen werden, die ersten Gesetze sind auf den Weg gebracht: Die Mietpreisbremse gehört dazu, auch das Kleinanlegerschutzgesetz für eine stärkere Regulierung riskanter Finanzgeschäfte. Das Klagerecht für Verbraucherverbände beim Datenschutz hat das Kabinett gerade verabschiedet.

          „Der Verbraucher wird entmündigt“

          Billen hat außerdem dafür gesorgt, dass bald sogenannte „Marktwächter“ ihre Arbeit aufnehmen. Sie sollen unlautere Praktiken aufspüren, Hinweise systematisch erfassen und Missstände an die Aufsicht weitergeben. Also vieles von dem, was die Verbraucherzentralen auch bisher schon gemacht haben. 1,5 Millionen Euro sind dafür bewilligt. Damit stärkt Billen niemand anderen als seine früheren Kollegen bei den Verbraucherzentralen. Das rechtfertigt er so: „Die Verbraucherzentralen haben eine ganz besondere Stellung. Sie haben kein ökonomisches Interesse.“

          Es ist wenig verwunderlich, dass die Wirtschaft Sturm läuft. Der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, der Markenverband und der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft sind vereint in ihrer Empörung. Durch Vorschriften und Warnhinweise fühlen sie sich gegängelt. Als ehemaliger Lobbyist mit einer klaren Ausrichtung steht Billen im Zentrum der Kritik. „Wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel in der Politik“, kritisiert etwa Patrick Tapp, der Präsident des Deutschen Dialogmarketing Verbandes. „Der Verbraucher wird entmündigt.“ Tapp spricht von einer „sehr rigiden Stimmungspolitik“, die das Verbraucherschutzministerium betreibe.

          Die Verbraucherschützer hingegen sind begeistert. Die Abkehr vom Bild des mündigen Verbrauchers fordern sie schon lange. Billens Nachfolger an der Spitze der Verbraucherzentrale, Klaus Müller, findet deutliche Worte. Als „Lebenslüge“ bezeichnet er das Konstrukt des „mündigen Verbrauchers“ - das zentrale Leitbild, das das Wirtschaftsleben jahrzehntelang geprägt hat. „Den Verbraucher habe ich noch nicht kennengelernt, der überall und ständig jetzt schon mündig ist“, sagt Müller.

          Das sieht der Europäische Gerichtshof anders. Er hat es geschaffen, das Bild eines „verständigen Durchschnittsverbrauchers“, der angemessen, informiert, aufmerksam und kritisch ist. Kurz: einer, der sich von rücksichtslosen Konzernen mit ihrer Lügenwerbung nicht aufs Kreuz legen lässt.

          Doch von diesem Leitbild hat sich die Bundesregierung verabschiedet. Nicht heimlich, still und leise, es steht ganz offiziell im Koalitionsvertrag. Die Sozialdemokraten treibt dieser Gedanke schon eine ganze Weile um. In ihren Leitlinien stellten sie 2012 ziemlich unmissverständlich klar, dass sie den Verbraucher allein für kaum überlebensfähig halten. Die Wissenschaft habe schließlich festgestellt, dass er so etwas abstruses wie „Daumenregeln“ nutze, sich überschätze und häufig irre. Als wäre das nicht genug, orientiere er sich auch noch an Freunden - womit wohl bewiesen wäre, dass Einfältigkeit auch noch ansteckend ist.

          Ausmaß der „neuen Architektur des Verbraucherschutzes“

          Das klingt wenig schmeichelhaft, ist aber nett gemeint. Denn wenn man sich den durchschnittlichen Verbraucher so vorstellt, wird deutlich, dass er Hilfe braucht. Da reicht es nicht mehr, dass die Medien in den vergangenen Jahren schon als die großen Aufklärer eingesprungen ist. Ob Marken-Check, Vergleichsportale oder Investigativberichte, überall könnte sich selbst der trotteligste Bürger über die finstersten Methoden der Kundentäuschung informieren. Doch dafür hat er schlicht keine Zeit, so das gängige Argument, genauso wenig wie für einen ausgeruhten Einkauf. „Durchschnittlich betrachtet ein Kunde ein Produkt 1,4 Sekunden, bevor er es in den Einkaufswagen legt“, berichtete Gerd Billen noch als oberster Verbraucherlobbyist. Dass dies zum Problem werden kann, liegt auf der Hand. Allerdings kann man zwei unterschiedliche Schlüsse daraus ziehen: Entweder muss sich der Verbraucher die Zeit eben nehmen. Oder der Staat nimmt ihm die Arbeit ab, quasi als Vormund.

          Da ist Billen jetzt dran. Aber das ganze Ausmaß dieser „neuen Architektur des Verbraucherschutzes“ ist in der breiten Öffentlichkeit noch nicht angekommen. Dabei wird sie vieles auf den Kopf stellen.

          Das sieht man schon an Billens neuer Wirkungsstätte, dem „Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz“. Das gab es bis zur vergangenen Legislaturperiode noch gar nicht. Unter der FDP war es noch das, was es schon immer war: das Bundesjustizministerium, zuständig für Gerichte und Rechtspolitik. Dann kam die SPD und installierte Heiko Maas als Minister. Der schwebt derzeit eher über den Dingen, ist in Sachen Pegida oder Frauenquote unterwegs. Maßgeblich für den Verbraucherschutz ist sein Staatssekretär - und der ist begeistert davon, dass sein Lebensthema nun gerade im Justizministerium seinen Platz gefunden hat. „Meine Hoffnung war früher, dass der Verbraucherschutz dann stärker wird, wenn er in einem Ministerium verankert ist, das eine eigene Federführung bei Gesetzen hat“, sagt er. „Damit wir nicht mehr davon abhängig sind, dass andere Ministerien bestimmte Themen aufgreifen.“

          Das Justizministerium bietet diese Möglichkeiten - und weit mehr als das: Es ist das einzige Ressort mit der Kompetenz, alle Gesetzesvorhaben auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Damit hat Billen einen einzigartigen Überblick über alles, was relevant für Verbraucher sein könnte.

          Zusätzliche Schlagkraft kommt aus dem Parlament. Mit der ehemaligen Grünen-Ministerin Renate Künast sitzt quasi die „Mutter des Verbraucherschutzes“ auf Ministeriumsseite dem Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz vor. Da wird auch schon mal mit großem Brimborium ein ranghoher Vertreter von Facebook zu den neuen Datenschutzrichtlinien des Unternehmens einvernommen. Zugeständnisse konnte ihm der Ausschuss aber nicht abringen. Wie auch? Zuständig sind die irischen Behörden.

          Nur wenige Probleme werden durch staatliche Eingriffe gelöst

          Die Frage, wie eigenverantwortlich ein Bürger handelt, ist nicht trivial. Sie dient dazu, im Ausgleich von unternehmerischer Freiheit einerseits und legitimem Verbraucherinteressen andererseits einen angemessenen Schutz zu bestimmen. Die zentrale Frage also lautet: Wie viel Verantwortung muss der Kunde für seine Entscheidung tragen? Und wie sehr muss der Staat eingreifen, um möglichst viele schlechte Entscheidungen zu verhindern? Müssen erwachsene Menschen daran erinnert werden, dass sie beim Aussteigen aus dem Zug auf die Bahnsteigkante achten?

          Auch dem Verbraucher kann es nicht egal sein, wenn der Staat ihn so sehr beschützen möchte, dass der Schutz in Belästigung umschlägt. Kaum anders lässt sich die Informationsflut bezeichnen, die auf jemanden hereinbricht, der nur einmal seinen Bankberater aufsucht. Jeder Vertrag kommt mit einer solch abschreckenden Detailfülle daher, dass die Texte oft noch nicht einmal überflogen werden. Und die 2010 noch unter großem Beifall eingeführten Beratungsprotokolle, die die umfassende Belehrung von Privatanlegern dokumentieren, haben sich in der Praxis schon als großer Flop erwiesen.

          Nur wenige Probleme werden durch staatliche Eingriffe gelöst. Die neuen Regeln zur Verhinderung von Abofallen gehören zwar dazu, aber die großen Betrugsfälle müssen immer noch die Gerichte aufklären. Das ist schließlich auch ihre Aufgabe. Dafür werden neue Probleme geschaffen: Auf der Welle des Verbraucherschutzes surfen jetzt auch Profi-Investoren mit, die sich schon seit Jahrzehnten auf dem Feld tummeln und nun auf einmal ihre Verluste auf die Banken abwälzen wollen. Risiken des Börsengeschäfts? Nie gehört! Sie verklagen ihre Bank und handeln diskret einen Vergleich aus.

          Den Informationsexzess leugnen auch Verbraucherschützer nicht. Er bestärkt sie darin, neue Wege zu gehen. Auch andere Bundesbehörden ruft Billen dabei zu Hilfe, mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht will er beginnen. Schließlich hat die Bafin ordnungsrechtliche Befugnisse, das hilft bei der Umsetzung. Das Bundeskartellamt soll folgen, ebenso die Bundesnetzagentur. Das wird noch eine Weile dauern. Aber dann ist der Verbraucher wirklich nicht mehr allein.

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