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Coronakrise : Der Exodus der indischen Arbeitsmigranten

Arbeiter warten in Neu Delhi auf Busse, die sie zurück in ihre Heimatorte bringen sollen. Bild: AP

Die indische Regierung hat ihr Land ins Koma versetzt. Die Tagelöhner aber strömen zurück in ihre Dörfer, weil sie überleben wollen. Indien ist damit überfordert.

          3 Min.

          Ministerpräsident Narendra Modi zeigte am Montag im Internet die Yoga-Übungen, die er täglich absolviert, um fit zu bleiben. Millionen von Tagelöhnern stehen zur selben Zeit vor viel größeren körperlichen Herausforderungen: Viele von ihnen müssen hunderte Kilometer laufen, um ihre Heimatdörfer zu erreichen, wollen sie überleben. Denn die Städte, wo sie sich verdingt haben, bieten ihnen kein Einkommen und keine Bleibe mehr, nachdem die Regierung des zweitgrößten Landes der Erde über Nacht eine Ausgangssperre verhängt hatte.

          Christoph Hein
          Wirtschaftskorrespondent für Südasien/Pazifik mit Sitz in Singapur.

          Weil die Bahn den Personenverkehr beendet hat und nicht ansatzweise genug Busse zur Verfügung stehen, strandeten Zehntausende an den Stadtgrenzen. Die Menschenschlange vor dem Busbahnhof Anand Vidar in Delhi hatte am Wochenende mehr als drei Kilometer gemessen. Nur eine Minderheit der Menschen schützte sich wenigstens durch Masken vor der Ansteckungsgefahr. Der Exodus der Tagelöhner birgt drei Probleme: Sie verdienen kein Geld mehr und können auch ihren Familien keines mehr überweisen, sie belasten nach der Rückkehr aber die Haushaltskasse zusätzlich, und natürlich könnten sie Corona in die entlegenen Winkel des Subkontinents transportieren. Auf der anderen Seite haben die Metropolen keine Ersatzarbeitskräfte. In Delhi wird die Zahl der Arbeitsemigranten auf rund 2 Millionen geschätzt.

          „Das wird ein Desaster“

          Rund 15 Millionen Menschen aus anderen Bundesstaaten sollen in den Großstädten Indiens arbeiten heißt es offiziell, Hilfsorganisationen aber gehen von zehnmal mehr Menschen aus. „Wir sprechen über enorm hohe Zahlen. Das wird ein Desaster“, sagt der frühere Chefstatistiker Indiens, Pronab Sen. „Idealerweise hätte man die Menschen vor Ort ernährt.“ Mit Blick auf den Zug der Armen fügt er an: „Wir haben den Kampf verloren. Wenn die Pandemie das ländliche Indien erreicht, sind wir extrem schlecht aufgestellt. Wir stecken ganz tief in Schwierigkeiten.“ Es kommt zu ergreifenden Szenen, die zeigen, wie unvorbereitet Indien auf die Katastrophe ist: Auf der einen Seite versorgten Bürger Delhis und Bombays Arme mit Essen und Bollywood-Stars verkündeten, tausenden Arbeitern ihre Löhne aus der privaten Schatulle zu zahlen.

          Auf der anderen Seite blockierten Einwohner in Ludhiana die Einfallsstraßen, um keine Menschen von außen hineinzulassen. In Bareilly ließen die Behörden Gruppen heimkehrender Wanderarbeiter unter freiem Himmel mit einer Desinfektionslösung abspritzen. Die Polizei verprügelte an manchen Orten Arbeiter, weil sie eine Gefahr darstellten. In Modis Heimatstaat Gujarat schoss sie Tränengas auf hunderte Textilarbeiter, um sie von der Reise abzuhalten. Viele halten der Regierung vor, sie lasse immer wieder die Armen, unter ihnen ein hoher Anteil Muslime, im Stich – bei dem sinnlosen Entzug von Bargeld, den Modi angeordnet hatte, dann beim Streit um die Staatsbürgerschaft und nun, weil für ihr Schicksal nicht gesorgt sei.

          Unterversorgung mit Corona-Tests

          Die Gesundheitsversorgung der 800 Millionen Armen Indiens ist auch an normalen Tagen nicht einfach. Sogar die staatliche Statistik zeigt, dass 2018 das reichste Fünftel der Inder auf dem Land für rund ein Drittel aller Behandlungen in Krankenhäusern stand. Das ärmste Fünftel auf dem Lande stand dagegen nur für ein Zehntel. Dabei ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass die Armen aufgrund von Unterernährung und harter Arbeit Versorgung brauchten. In Regierungsdokumenten, die die Agentur Reuters eingesehen hat, heißt es, Indien brauche mindestens 38 Millionen Masken und gut 6 Millionen Sätze Schutzkleidung; es verfügt derzeit aber nur über 9 Millionen Masken und 800.000 Schutzanzüge.

          Die Regierung hat die Unternehmen aufgerufen, sofort mit der Fertigung zu beginnen. Am Montag folgte die Aufforderung an die Automobilindustrie, Ventilatoren zu produzieren. Angesichts der Unterversorgung mit Tests wird es unmöglich sein, zumindest Menschen mit Symptome auf Corona zu untersuchen; fast 20 Prozent der Armen gaben an, im vergangenen Monat unter Husten oder Fieber gelitten zu haben, was beides auch auf Symptome hinweisen könnte. Obwohl die Lebensmittelspeicher gut gefüllt sind, könnte es schwer werden, den Ärmsten zu helfen, da die Wirtschaft in eine Krise trudelt.

          Modi entschuldigt sich

          Rob Subbaraman, Chefvolkswirt der Bank Nomura, warnte am Montag, im schlimmsten Fall drohe Indien in diesem Jahr um 4 Prozent zu schrumpfen: „Wachsende Arbeitslosigkeit, der Verlust von Einkommen und die Politikverdrossenheit über die drakonischen Maßnahmen könnten zu sozialen Unruhen führen.“ Die Analysten von Standard & Poor’s erklärte, die Lage in der Region sei „mindestens so schlimm wie während der Asienkrise 1998“. Die Lage der Armen führt zu politischen Zerwürfnissen. Vertreter von Modis Regierungspartei unterstellten der Regionalregierung in Delhi, die Menschenmassen in Bussen zur Grenze gebracht zu haben, um Chaos zu erzeugen.

          „Stellt bitte sicher, dass jede Familie Essensrationen für 15 Tage bekommt und in Bussen zurück in ihre Unterkünfte gebracht wird. Sonst wird das Ganze ein Problem“, warnte ein Parteivertreter die oppositionelle Stadtregierung, wobei ihm klar sein musste, dass die Meisten nach Hause wollen, weil sie keine Bleibe mehr haben. Oppositionsführer Rahul Gandhi twitterte: „Ohne Arbeit und vor einer unsicheren Zukunft kämpfen Millionen unserer Schwestern und Brüder in Indien damit, ihren Weg in die Heimat zu finden. Es ist beschämend, dass wir zulassen, dass auch nur ein Inder so behandelt wird und die Regierung keine Notfallpläne für einen solche Exodus hat.“ Modi entschuldigte sich am Sonntag bei seinem gut 1,3 Milliarden Menschen zählenden Volk: In seiner dritten Ansprache innerhalb einer guten Woche sagte er: „Wir müssen den Kampf gegen Corona gewinnen, und wir werden ihn gewinnen.“

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