Tagelange Verhandlungen : Dieser EU-Gipfel wird Narben hinterlassen
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Gipfelerprobt: Angela Merkel Bild: dpa
Die europäischen Regierungschefs verhandeln immer noch über die Corona-Hilfen. Das liegt auch daran, dass dahinter ein grundsätzlicher Konflikt steckt, der über Europas Zukunft entscheidet.
Dieser Gipfel wird Narben hinterlassen. Das steht schon vor dem Ende des vierten Tages fest, an dem die Staats- und Regierungschefs immer noch um eine Einigung auf den Corona-Wiederaufbauplan ringen.

Wirtschaftskorrespondent in Brüssel.

Wirtschaftskorrespondent in Brüssel.
In der Nacht zum Montag hat es einen Durchbruch zur Höhe der Zuschüsse gegeben, die die Staaten aus dem Wiederaufbauplan bekommen sollen. Als die Chefs nachmittags wieder zusammenkommen, geht es um das letzte große Thema des Gipfels: Kann die EU Staaten, die sich nicht an die EU-Standards zur Rechtsstaatlichkeit halten (Ungarn, Polen) Hilfen aus dem Haushalt und dem Wiederaufbauplan kürzen?
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in den vergangenen Tagen mehrfach mit seinem Veto gedroht, sollten die anderen darauf beharren – unterstützt von Polen, Tschechien, der Slowakei und Slowenien. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron haben erkennen lassen, dass sie eine Einigung nicht am Rechtsstaatsmechanismus scheitern lassen wollen.
Die Zeit spielt Orbán in die Hände
Ausgerechnet die „sparsamen fünf“ Staaten, die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland aber halten daran fest. Doch die Zeit spielt Orbán in die Hände. Je länger der Gipfel dauert, desto geringer wird der Appetit der anderen, ihn an der Rechtsstaatlichkeit scheitern zu lassen.
Auch die anderen offenen Punkte kommen nun, nach dreieinhalb Tagen, auf den Tisch: der allein 1,1 Billionen Euro große reguläre EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027, zudem das Ziel, 30 Prozent der Ausgaben aus dem Wiederaufbauplan und EU-Haushalt für den Klimaschutz zu verwenden, und die Forderung nach neuen Eigenmitteln für die EU.
Die stundenlangen Verhandlungen in großer und kleiner Runde, im Plenarsaal des Brüsseler Europa-Gebäudes und der Dachterrasse von Ratspräsident Charles Michel am Tag und in der Nacht haben die Teilnehmer mehr denn je an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Das gehört dazu. Kompromisse werden nicht nur auf EU-Gipfeln immer erst geschmiedet, wenn alle den sprichwörtlichen Blick in den Abgrund geworfen haben.
Aber der Ton ist persönlich geworden, vielleicht zu persönlich – und immer trifft es ganz besonders den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte. Mehrfach schlägt Macron aus Ärger über die „Sparsamen“ und Rutte mit der Faust auf den Tisch. Der verhalte sich wie der ehemalige britische Premierminister David Cameron in Haushaltsverhandlungen.
Viel Kritik an Rutte
Auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz bekommt seine Wut zu spüren, als der kurz den Saal verlässt, um ein Telefonat entgegenzunehmen. „Sehen Sie? Es ist ihm egal. Er hört nicht auf andere, hat eine schlechte Einstellung. Er kümmert sich um seine Presse, und basta!“ schimpft Macron.
Der italienische Ministerpräsident Guiseppe Conte wirft den „Sparsamen“ die „Erpressung der EU“ vor, der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow ätzt, Rutte spiele sich zum „Polizisten der gesamten EU“ auf und der ungarische Ministerpräsident Orbán klagt wegen dessen harter Linie bei der Rechtsstaatlichkeit, Rutte hasse Ungarn. „Wir sind alle hier, um die Interessen unserer Länder zu vertreten, nicht um uns für den Rest unseres Lebens gegenseitig zum Geburtstag einzuladen“, antwortet Rutte in genau dem trockenen Ton auf die Angriffe, der Macrons Faust auf den Tisch treibt. Und Kurz sagt, es sei angesichts der langen Verhandlungen verständlich, „dass bei manchen die Nerven blank liegen“.
Der Gipfel hat eine tiefe kulturelle Kluft zwischen den wohlhabenden kleinen nord- und mitteleuropäischen Ländern und dem Rest der EU offenbart. Das insgesamt 1,8 Billionen Euro umfassenden Paket aus Wiederaufbauplan und regulärem EU-Haushalt 2021 bis 2027 stellt die „liberalen Staaten“ aus dem Norden vor eine fundamentale Neuausrichtung der EU-Politik: Es geht nicht um die Höhe der Hilfen, sondern darum, dass die EU erstmals in ihrer Geschichte Schulden in beträchtlicher Höhe machen soll und das Geld zum großen Teil nicht als Kredite, sondern als nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse in die Staaten fließen soll.
Der Streit ist damit, so wichtig der Fonds für die Zukunft der EU sein mag, letztlich ein Stellvertreterkrieg für eine viel grundsätzlichere Frage: Welche Richtung schlägt die EU in den kommenden Jahren ein? Orientiert sie sich weiter gen „Süden“ und setzt auf einen starken Staat und hohe (schuldenfinanzierte?) Ausgaben? Und was bedeutet das für den „liberalen Norden“?
Keiner kann sich mehr hinter den Briten verstecken
Das ist auch eine Folge des Brexit. Jahrelang konnten sich Länder wie die Niederlande, Österreich, aber auch Deutschland hinter dem Vereinigten Königreich verstecken, das nicht nur in den Verhandlungen über den EU-Haushalt ein Gegengewicht zu Frankreich und südeuropäischen EU-Staaten wie Italien gebildet hat. Nun fühlen sich Rutte, Kurz und die skandinavischen Chefs gezwungen, gemeinsam zu Cameron zu werden.
In gewisser Weise ist ihr Auftreten so etwas wie eine „Abwehrschlacht“. Nur damit ist das tagelange Ringen um die Höhe der nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse zu erklären, die die Staaten aus dem Aufbauplan erhalten sollen. Den Freitag blockiert Rutte im Alleingang, weil er ein Veto-Recht bei der Genehmigung der Reformpläne verlangt, mit denen die Staaten darlegen sollen, wofür das Geld aus dem Aufbaufonds fließen soll. Am Samstagmorgen hat er eine „Super-Notbremse“ durchgesetzt: Im Zweifelsfall sollen sich die Staats- und Regierungschefs mit den Bedenken eines Staats befassen. Das kann Rutte daheim als „faktisches Veto“ verkaufen.
Das ist nicht ganz korrekt, aber darum geht es nicht. Die Notbremse ist reine Symbolik. Niemand glaubt, dass sie je genutzt wird.
Auch der Streit über die Höhe der Zuschüsse in der Nacht zum Montag dreht sich um Symbolik: Steht eine „3“ am Anfang oder eine „4“. Die „sparsamen Fünf“ wollen den Kommissionsvorschlag von 500 auf 350 Milliarden Euro kürzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Macron und die anderen beharren auf 400 Milliarden. Es geht um 50 Milliarden Euro Differenz in einem Gesamtpaket von 1,8 Billionen Euro. Dennoch dauert es bis zum frühen Morgen, bis mit 390 Milliarden Euro ein vorläufiger Kompromiss steht – auch wenn sich Macron bis zum Nachmittag weigert, offiziell zuzustimmen. Am Montagabend bestätigen EU-Vertreter dann den Kompromiss.
Der französische Präsident tut sich schwer damit zu akzeptieren, dass der von ihm und Merkel vorgelegte Vorschlag für einen 500-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds, auf dem das EU-Paket aufbaut, zusammengekürzt wird. Auch das hat der Gipfel gezeigt: Die alte Formel „Wenn Deutschland und Frankreich sich einigen, ist die Basis für einen Erfolg gelegt“ gilt weniger denn je. „In der EU mit 27 Mitgliedstaaten machen Deutschland und Frankreich oft etwas aus, und alle anderen müssen es abnicken“, sagt der Österreicher Kurz.
Deshalb sei es „das Beste“ gewesen, dass die Gruppe der erst vier und dann fünf sparsamen Staaten immer zusammengeblieben seien. Das seien alles Länder, die allein kein Gewicht hätten. „Wenn man eine Gruppe bildet und für gemeinsame Interessen kämpft, dann kann man sehr viel erreichen.“
Nicht die erste deutsche-französische Niederlage
Es ist nicht die erste Niederlage für Deutschland und Frankreich in jüngster Zeit. Gemeinsam mit Italien hatten sie sich die spanische Finanzministerin Nadia Calviño als neue Vorsitzende der Eurogruppe ausgeguckt. Die Eurofinanzminister aber wählten vor zehn Tagen den Iren Pascal Donohoe zu ihrem neuen Chef. Vor allem die Niederländer jubilierten über den Sieg.
Im Nachhinein war das ein Vorgeschmack auf das Ringen beim Gipfel zwischen den kleinen, liberalen Staaten und dem Rest. Das hat weniger mit Parteipolitik zu tun. Die Konzentration auf die konservativ-liberalen Rutte und Kurz hat den Blick darauf verstellt, dass es in Skandinavien sozialdemokratische Regierungen sind, die sich gegen zu hohe Corona-Hilfen für Südeuropa sperren.
Eine Brücke zwischen beiden Seiten zu schlagen, wird nach dem Gipfel nicht einfach sein. Das gilt umso mehr, da allen voran die Niederlande immer noch damit zu kämpfen haben, dass ihnen in der Krise die deutsche Kanzlerin mit dem deutsch-französischen Vorstoß für den Wiederaufbaufonds „von der Fahne“ gegangen ist. Es war ein Schock für die „Sparsamen“, dass Merkel, die sich zuvor wie sie selbst gegen Zuschüsse und für Kredite ausgesprochen hatte, nun plötzlich mit Macron gemeinsame Sache machte, einem Macron zudem, der sich in den vergangenen zwei Jahren immer mehr gen Südeuropa orientiert hat.
Die bewährte Allianz des „liberalen Europas“ steht in der Wahrnehmung der „Sparsamen“ jedenfalls nicht mehr. Es wird schwer für Merkel werden, ihre alte Mittlerrolle zwischen „Nord“ und „Süd“ als meist stille Teilhaberin der „liberalen Europäer“ wieder einzunehmen.