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DGB-Kommentar : Gewerkschaft 4.0

Ab Sonntag tagt der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes wieder. Das selbsternannte „Parlament der Arbeit“ trifft sich nur alle vier Jahre. Bild: dpa

Der Bundeskongress des Gewerkschaftsbundes tagt ab Sonntag. Das Motto: Alle wollen Gutes. Doch was unterscheidet Gewerkschaften künftig noch von Greenpeace?

          3 Min.

          Der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes tagt alle vier Jahre und nennt sich auch das „Parlament der Arbeit“. Jetzt ist es wieder so weit, die einwöchigen Beratungen der 400 Delegierten werden am Sonntag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann eröffnet. Später gibt sich auch die Bundeskanzlerin die Ehre und erklärt den gewerkschaftlichen Parlamentariern ihre Politik. Volle Staatskassen und das dicke sozialpolitische Kapitel des rot-schwarzen Koalitionsvertrags erlauben wohl einen recht harmonischen Verlauf.

          Solche Kongresse werfen ihr Scheinwerferlicht aber auch in den Maschinenraum gewerkschaftlicher Gremiendemokratie. So lässt sich besichtigen, welche Wünsche und Ideen der DGB-Chef und seine Spitzenkollegen verarbeiten, wenn sie Regierung und Arbeitgebern gegenübertreten, um mehr Rente, mehr Regulierung oder mehr Lohn zu fordern. Jede Gewerkschaftsgliederung, die etwas auf sich hält, bringt Anträge zur Beratung mit, um ihre besonderen Anliegen ins Bewusstsein zu rücken. Allerdings ist auch aus Parteien bekannt, dass sich gerade mittlere Funktionärsschichten gerne in Denkwelten bewegen, die dem Alltag einfacher Bürger eher fremd sind.

          Diesmal tritt der DGB-Bundesfrauenausschuss mit einem Antrag für geschlechtergerechte Digitalisierung an. Der Bundesjugendausschuss will die 30-Stunden-Woche, derweil der Bundesvorstand gegen unfreiwillige Teilzeit kämpft. Der Frauenausschuss fordert zudem, neben geschlechtergerechter Haushalts- und Weltpolitik, eine Schließung der Arbeitszeitlücke zwischen Frauen und Männern. Der DGB Hessen-Thüringen will 13,50 Euro Mindestlohn und ein strenges Arbeitszeitgesetz: Arbeitnehmer dürfen nur noch sieben Stunden am Tag arbeiten – und bei beharrlichen Verstößen sollen Arbeitgeber länger ins Gefängnis.

          Grundsatzfragen nicht geklärt

          Nicht bei allen Anträgen fällt die Vorstellung leicht, dass darüber schon sorgfältig diskutiert wurde. Dennoch kann all das eine bedeutsame gesellschaftliche Funktion erfüllen: Gewerkschaften können Meinungsbildung für größere Bevölkerungsschichten kanalisieren, die sich sonst womöglich in Teilen weniger zivilisierte Ausdrucksformen suchen würden. Bemerkenswert ist insofern ein weiterer Antrag der DGB-Jugend, der an die Gewaltproteste zum G-20-Gipfel 2017 in Hamburg denken lässt: Die gewerkschaftliche Jugendorganisation bezieht darin klar Position zur Rolle von Polizei, Ordnungs- und Rettungskräften. Polizisten als „anonymisiertes staatliches Feindbild“ zu betrachten habe „fatale Konsequenzen“ – für die Beamten, „aber auch für unsere ganze Gesellschaft“.

          Bei den gewerkschaftlichen Kernthemen ist das Konfliktpotential diesmal geringer als vor vier Jahren. Das liegt weniger daran, dass nun – anders als nach dem Abschied von DGB-Chef Michael Sommer – kein Personalwechsel geplant ist. Doch stand damals mit den Regierungsplänen zum Tarifeinheitsgesetz, also zur Einhegung kämpferischer Berufsgewerkschaften, ein Thema zur Debatte, das den DGB zu spalten drohte. Nur durch Formelkompromisse ließ sich das Bild von Einigkeit retten und die tiefe Kluft überspielen, die Vertreter einer kämpferischen und einer sozialpartnerschaftlichen Richtung trennt. Eine solche Klippe überschattet den Kongress diesmal nicht. Und dass die Regierung auch mit dem neuen Koalitionsvertrag noch nicht alle Gewerkschaftsforderungen erfüllt, stärkt eher den Zusammenhalt.

          Die Grundsatzfragen, die im Streit über die Tarifeinheit aufschienen, sind aber nicht geklärt. Sie betreffen auch die Folgen der Digitalisierung, der sozialen Netzwerke und des gesellschaftlichen Wandels für Gewerkschaftsarbeit und Tarifpolitik. Knapp gefasst: Warum sollen sie sich als Arbeitnehmervertretungen eigentlich noch der Mühsal von Tarifverhandlungen und -kompromissen unterziehen, wozu braucht man noch Sozialpartnerschaft und feste Mitgliederstrukturen – wenn Politik und Öffentlichkeit doch immer leichter wie auf Knopfdruck durch Kampagnen und Skandalisierung für beliebige Ziele zu mobilisieren sind? Auch viele Unternehmen lassen sich davon im Zweifel mehr beeindrucken als durch die Streikdrohung einer mitgliederschwachen Gewerkschaft.

          Wo bleibt die offenen Auseinandersetzung?

          Funktionäre, die Weltbilder wichtiger nehmen als Arbeitsplätze, werden von so einer Zukunft träumen. Für Arbeitnehmer sieht es aber anders aus. Denn Kampagnenpolitik – ob gegen Zeitarbeit, Diesel, Niedriglohn oder Kohlestrom – ist stark von Zufallsstimmungen abhängig und führt kaum zu schlüssigen Ergebnissen. Der Unterschied zwischen Gewerkschaft und Greenpeace verschwimmt. Wer sich stabile Arbeitsplätze und -bedingungen erhofft, wird daran wenig Freude haben.

          Eine Interessenvertretung hingegen, die viele feste Mitglieder anzieht und organisiert, um in deren Namen mit Arbeitgebern Kompromisse auszuhandeln, gewinnt in vielfältiger Hinsicht Verlässlichkeit – und eine besondere politische Glaubwürdigkeit.

          Die Klärung solcher Grundsatzfragen erfolgt aber erfahrungsgemäß oft nicht auf Kongressen, sondern eher schleichend im gewerkschaftlichen Alltag. Eine offene Auseinandersetzung darüber wäre trotzdem spannend. Und vielleicht noch lohnender als ein Wettstreit darum, welches Antragsgremium die weitreichendste sozialpolitische Forderung fabriziert.

          Dietrich Creutzburg
          Wirtschaftskorrespondent in Berlin.

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