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Post-Brexit-Stress : Britische Wirtschaft enttäuscht von Johnson

Erntet Widerspruch auch aus dem konservativen Lager: Premierminister Boris Johnson Bild: AP

Der Premier lobt höhere Löhne, doch Unternehmer klagen über Personalmangel. In der britischen Wirtschaft und selbst unter Brexit-Befürwortern rumort es.

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          Den Parteitag der britischen Konservativen hat Boris Johnson mit seiner schwungvollen Rede begeistert, doch die Reaktionen aus der Wirtschaft und von Unternehmern fallen kühl bis negativ aus. Der Premierminister hatte vor den Tausenden Delegierten in Manchester wortreich die wirtschaftliche Erholung des Landes gefeiert und eine angebliche Wende zu einer Wirtschaft mit höheren Löhnen, Investitionen und Produktivität beschworen, aber kaum Substanzielles zu den aktuellen Krisen gesagt.

          Philip Plickert
          Wirtschaftskorrespondent mit Sitz in London.

          Die Handelskammer BCC reagierte verärgert. Zwar begrüße man die Ambitionen des Premiers, aber die Unternehmen bräuchten „dringend Antworten auf die Probleme, vor denen sie hier und jetzt stehen“, sagte BCC-Generaldirektorin Shevaun Haviland. „Die Firmen kämpfen mit einer kumulativen Krise der Geschäftsbedingungen, da die Lieferketten beschädigt sind, die Preise hochschießen, die Steuern steigen und der Arbeitskräftemangel neue Höhen erreicht.“ Insgesamt stehe die wirtschaftliche Erholung auf schwankendem Boden. Nach den Prognosen vom Sommer könnte die britische Wirtschaftsleistung dieses Jahr zwar um 7 Prozent wachsen nach dem tiefen Corona-Einbruch, doch Lieferkettenprobleme und Personalmangel belasten die Unternehmen zunehmend.

          Johnson hat in Manchester einen besonderen Schwerpunkt auf die „Levelling-up“-Politik gelegt. Gemeint ist die Förderung zurückgebliebener nordenglischer Regionen. Die Regierung investiert in neue Infrastruktur, große Schnellbahnen und Straßenbauprojekte sowie neue Buslinien. Johnson kündigte zudem an, die Schulen in benachteiligten Orten zu stärken. Mathematiklehrer, die dorthin ziehen, sollen einen Bonus von 3000 Pfund bekommen. In den nordenglischen früheren Labour-Wahlkreisen hatten die Tories 2019 große Wahlerfolge gefeiert.

          Fernfahrer gesucht

          Johnsons Ruf nach höheren Löhnen zielt nun klar darauf, Sympathien in der Arbeiterschaft zu gewinnen. Die Regierung erwägt zudem, den gesetzlichen Mindestlohn um 5,7 Prozent auf 9,42 Pfund (fast 11 Euro) zu erhöhen. Der Unternehmensverband Confederation of British Industry (CBI) warnte indes Johnson nach seiner Rede in Manchester, das Ziel höherer Löhne ohne höhere Produktivität führe nur zu höheren Preisen. Volkswirte glauben, dass die Inflation im Königreich, getrieben besonders von den hohen Energiepreisen, deutlich über 4 Prozent steigen könnte.

          Derzeit steigen die Löhne in einigen Branchen und Berufen stark, weil Unternehmen händeringend Personal suchen. Besonders gesucht sind Fernfahrer, aber auch Tausende Helfer für die Landwirtschaft, Schlachthöfe und andere Branchen werden mit Lohnaufschlägen gelockt – oft vergeblich. Johnson kontert die Rufe nach mehr ausländischen Arbeitskräfte mit den harschen Worten: „Wir gehen nicht zurück zu dem kaputten Modell der Niedriglöhne und Niedrigproduktivität“, das durch „unkontrollierte Immigration“ erschaffen worden sei, sagte er in Manchester. Das marktliberale Adam-Smith-Institut zeigt sich empört über die aus seiner Sicht sozialdemokratische Wende des Premiers, der sich vom Thatcher-Erbe der Tories entferne.

          Mehr als eine Million offene Stellen

          Widerspruch hörte Johnson aber auch von prominenten Unterstützern der Konservativen. Lord Simon Wolfson, Chef der erfolgreichen Modehandelskette Next und erklärter Brexit-Anhänger, warnte den Premier. Er wolle nicht zu einer unkontrollierten Immigration aus EU-Ländern zurück, sagte Wolfson in einem BBC-Radiointerview, aber er wolle Visa für dringend benötigte Fachkräfte. Selbst zu höheren Löhnen finde er kein britisches Personal für seine Lagerhäuser. Derzeit gibt es nach Angaben des Statistikamts ONS mehr als eine Million offene Stellen in der Wirtschaft. Richard Walker, Chef der Supermarktkette Icelands Foods und Brexit-Unterstützer, beklagte sich ebenfalls über Johnson. Der behandle die Wirtschaft wie einen „Schwamm“, der beliebig Kosten aufsaugen könne.

          Die Tankstellenkrise hat sich inzwischen entspannt, nachdem es rund zehn Tage an vielen Zapfsäulen kaum Benzin gab. Umso lauter klagen jetzt Landwirte und Nahrungsmittelindustrie über Personalmangel. Britische Farmer haben mit der Notschlachtung von Schweinen begonnen, weil ihre Höfe überfüllt sind und die Schlachthöfe keine Kapazitäten frei haben. Einzelne Bauernbetriebe mussten aus Mangel an Transporteuren Zehntausende Liter Milch wegschütten. Der Milchbauernverband sprach diesbezüglich aber noch von „wenigen Vorfällen“. Insgesamt wächst jedoch die Furcht, dass die vielen Engpässe sich in der Vorweihnachtszeit zu einer größeren Krise auswachsen könnten.

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