VW-Abgasskandal : Entehrt
- -Aktualisiert am
Fertigungsstraße in Wolfsburg für den VW-Polo Bild: AP
Die Manipulationen bei VW hinterlassen verbrannte Erde. Ein Konzern verliert seine Ehre. Und Martin Winterkorn verliert sie auch. Hätte das Desaster verhindert werden können? Eine Rekonstruktion der Affäre.
Man muss sich dieses Video mehrmals anschauen, um es zu verstehen. Es dauert zwei Minuten, 33 Sekunden. Es ist ernst, gruselig und traurig. Ein Mann macht sich lächerlich. Martin Winterkorn steht an diesem Dienstag, dem 22. September 2015, starr, fahl, unbeweglich vor einer Wand, auf der vielfach das Wort „Volkswagen“ zu lesen ist. Augenscheinlich liest er von einem Teleprompter genannten Textautomaten eine Erklärung ab. Er sagt, dass ihm die jetzt aufgeflogenen Dinge „unendlich leid tun“ und dass er sich „in aller Form“ entschuldige. Er sagt, dass wegen der „Fehler einiger weniger“ jetzt nicht die „ehrliche Arbeit“ von 600.000 VW-Arbeitern „unter Generalverdacht“ gestellt werden dürfe. Er verspricht, „schonungslos“ aufzuklären.
Winterkorn kämpft, aber er wirkt nicht kämpferisch. Winterkorn sagt Dinge, die niemand behauptet hat. Und er sagt Dinge nicht, die alle wissen wollen. Kein Mensch hat für die Abgasfälschungen von VW alle Arbeiter unter Generalverdacht gestellt. Bloß einer steht vor allem unter Verdacht: Winterkorn selbst. Was hat der Mann, der Wolfsburg über Jahre beherrschte, gewusst von den Betrugsfällen bei Dieselfahrzeugen, die VW inzwischen eingestanden hat? Wenn er nichts gewusst hat, wie kann es sein, dass ein Betrug solchen Ausmaßes über lange Jahre von ihm unbemerkt blieb? Hatten seine Leute Angst vor ihm, dem autoritären Choleriker? Wollten sie ihn schonen? Unerklärlich.
Abgas-Skandal : VW-Chef Winterkorn will aufklären, aber nicht zurücktreten
Winterkorn ahnte schon, dass seine Zeit abläuft
Winterkorn stiehlt sich aus der Verantwortung. Das Pathos des Chefaufklärers, der verleugnet, er könne der Angeklagte sein, wirkt hohl. Deshalb kippen die zweieinhalb Minuten Video bei wiederholter Betrachtung ins Lächerliche. Nicht erst deshalb, weil man heute weiß, wie die Geschichte weitergeht. Lächerlich sei etwas nur vor dem Hintergrund des Ernstes, mit dem es kontrastierte, kann man bei Helmut Plessner lesen, einem deutschen Philosophen. „Das Lächerliche entehrt mehr als Unehre“, schreibt La Rochefoucauld, ein französischer Moralist. Winterkorn hat sich selbst entehrt.
Kurz nachdem das Winterkorn-Video ins Netz gegangen ist, trifft sich in Wolfsburg ein informeller Kreis. Berthold Huber, der Aufsichtsratsvorsitzende und ehemalige IG-Metall-Chef, ist dabei, Bernd Osterloh, Aufsichtsrat und Betriebsratschef, ein weiterer Gewerkschafter, der oberste VW-Hausjurist. Und Martin Winterkorn. Die Lage hat sich längst dramatisch zugespitzt: Die VW-Aktie verlor zeitweise vierzig Prozent ihres Börsenwertes. Statt 80 Milliarden Euro ist das Unternehmen plötzlich nur noch 55 Milliarden Euro wert. Infiziert davon wurden nicht nur weitere Autoaktien von BMW bis Daimler. Auch der komplette Dax, der es in diesem Jahr schon einmal auf über 12.000 Punkte geschafft hatte, bewegte sich flink in Richtung 9000. Betroffen sollen über zehn Millionen Autos sein; allein die Strafe der amerikanischen Umweltbehörde könnte sich auf bis zu 18 Milliarden Dollar belaufen. Die Kosten für Klagen und Rückrufe sind noch gar nicht abzuschätzen.
Es müssten jetzt auch personelle Konsequenzen gezogen werden, sagen die an diesem Abend Anwesenden zu Winterkorn. Winterkorn sagt dazu nichts. Man geht auseinander. Aber es könnte Winterkorn gedämmert sein, dass er nicht mehr bis zum Frühjahr 2018 Vorstandsvorsitzender von VW sein würde.