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Ausbau der Grundschulen : Kindheit nach Stundenplan

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Rhythmisierter Unterricht als neues Modell: der Unterricht wird über den Tag verteilt. Bild: dpa

Viele Krippen und Ganztagsschulen werden neu eröffnet. Viele wollen mehr – doch jede zweite Familie hat genug. Der Ausbau geht weiter, und Eltern fürchten, dass Angebote schleichend zur Pflicht werden.

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          Manche Erwachsene sagen, die schönsten Momente ihrer Kindheit seien die Stunden und Tage gewesen, an denen sie in Ruhe gelassen wurden. Wo sie zum Beispiel mit Freunden spielten, auf dem Bolzplatz und auf der Straße, oder einfach so herumsaßen, in die Luft guckten und sich selbst etwas einfallen lassen mussten.

          So sahen auch die schönsten Momente in der Kindheit von Tamara Neckermann aus. Sie ist heute Schulleiterin der Textorschule, einer beliebten Grundschule im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Sie sagt, sie bedauere, dass man heute kaum noch Kinder auf der Straße spielen sehe. Vielleicht liegt es an ängstlichen Eltern, oder am engen Terminkorsett der Kinder. „Von romantischen Vorstellungen der Kindheit müssen wir uns aber heute wohl verabschieden“, sagt Frau Neckermann, die gerade eine Menge Arbeit hat. Denn ihre Textorschule wird nach den Sommerferien zur Ganztagsschule, so wie Dutzende andere in Hessen und mehrere hundert Schulen in ganz Deutschland.

          Vereinen kommt der Nachwuchs abhanden

          Somit wirkt auch Tamara Neckermann daran mit, dass die Kinder von der Straße verschwinden – oder eben auch nicht. Denn die waren ja schon viel länger weg: in den Horten, Musikschulen und Sportvereinen. Die wiederum klagen schon jetzt: dass ihnen die Ganztagsschulen die Kinder wegnähmen. Vielen Vereinen kommt der Nachwuchs abhanden, oder alles drängt sich am Abend, wenn auch Erwachsene die Sporthallen nutzen wollen.

          Für die Kinder an der Textorschule ist jedenfalls nur noch für wenige Tage Schulschluss um 12.25 Uhr oder 13.10 Uhr – so, wie es für Generationen war. Ab dem Sommer übernimmt ein Förderverein das Nachmittagsprogramm, das aus Essen, Musik, Spielen und Sport besteht. Eltern können die Kinder für drei oder fünf Nachmittage anmelden, oder es sein lassen. „Es ist ein Angebot an Kinder, die das brauchen und an deren Eltern, die das möchten“, sagt die Schulleiterin. Es soll kindgerecht zugehen mit Musik, Skateboards und frei von Dauerbeschulung. Die Nachfrage ist groß. „Diejenigen, die zu Hause bleiben, werden extrem in der Minderheit sein“, sagt Neckermann.

          Mehrheit dafür, Familie steuerlich zu entlasten

          Eine Revolution ist es nicht. Sachsenhausen ist einer der teuersten Stadtteile. Fast alle Eltern hier sind Doppelverdiener. Längst heißt das für die Kinder, dass der Großteil den Nachtmittag im Hort verbringt und dort unter Pädagogen und vielen anderen Kindern ist. Die alte Straßen-Kindheit gibt es noch, aber nur abends und am Wochenende. Es geht nicht anders, und viele Eltern sind dankbar, dass es die neuen Angebote gibt, wie auch die Krippenplätze, die sich in wenigen Jahren verdoppelt haben.

          Aber es gibt auch Eltern, denen der Ausbau nun genügt. Wie eine Studie von Allensbach für das Bundesfamilienministerium in dieser Woche zeigte, sind die Eltern gespalten. Wurde gefragt, ob das Betreuungsangebot für Kleinkinder oder das Angebot an Nachmittagsschulen ausreiche, antwortete rund die Hälfte der Familien mit nein, die andere aber mit ja. In den Zeitungen fand meist das Nein Widerhall: Familien wünschen sich mehr Teilzeit, mehr Gleichberechtigung in der Erziehung, mehr staatliche Kinderbetreuung. Aber es gibt auch die andere Hälfte. Eben nur die eine Hälfte findet, „die Politik sollte Eltern unterstützen, die beide gleich viel arbeiten und sich die Kinderbetreuung gleichermaßen aufteilen.“ 50 Prozent sehen das anders. Eine klare Mehrheit unter Eltern gab es hingegen dafür, Familien steuerlich zu entlasten (74 Prozent).

          „Der Beruf der Hausfrau ist ja eine Tätigkeit, die auch ihre Berechtigung hat“

          Eltern, die zunehmende Fremdbetreuung skeptisch sehen, haben sehr unterschiedliche Motive. Manche möchten selbst die Hand über ihren Kindern haben. Sie wollen bestimmen, in welche Sportvereine, in welches Konservatorium und in welche Sprachschule das Kind geht. Sie meinen, das besser entscheiden zu können als Lehrer, weil sie ihre Kinder besser kennen. Vielleicht sind es Helikoptereltern. Es gibt aber auch Eltern, denen es um Freiräume für Kinder geht. Zum Beispiel wäre da Silke Herbrandt, die mit vier Kindern und Mann im Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch lebt. Sie arbeitete früher als Betriebswirtin und Dozentin an der Hochschule. Nach den ersten zwei Kindern sollte ein letztes drittes folgen, doch dies waren Zwillinge. Jetzt fand sie, dass sie als Arbeitnehmerin nicht mehr zumutbar war: Immer war ein Kind krank. Sie blieb erstmal Hausfrau. „Der Beruf der Hausfrau ist ja eine Tätigkeit, die auch ihre Berechtigung hat“, sagt sie.

          Sie möchte ihn nun gut machen und den Kindern, solange sie klein sind, bei den Hausaufgaben helfen, mit ihnen Mittag essen, von ihnen erfahren, was in der Schule los ist. „Wir wünschen uns eine Halbtagsschule, weil wir eine andere Vorstellung vom Kinderhaben und Familie haben“, sagt sie, „wir haben uns das lange und gut überlegt.“ Ein Schultag von 8 bis 17 Uhr gehört nicht zu dieser Vorstellung. „Dann sind die Kinder platt und erzählen nichts mehr, so einen langen Arbeitstag hat nicht mal jeder Erwachsene“, meint Silke Herbrandt. Ihre älteren Kinder besuchen die Grundschule, die Zwillinge den Kindergarten, sie arbeitet wieder ein wenig.

          Anteil der Ganztagsschulen nimmt zu

          Die Grundschule liegt zur Freude von Silke Herbrandt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihres Hauses. Im kommenden Sommer wird auch sie zur Ganztagsschule, so wie sehr viele in Baden-Württemberg. Als sie davon hörte, dachte die Mutter: Wäre es nicht absurd, wenn ich von morgens bis um 17 Uhr zu Hause säße, weil ich Hausfrau sein möchte, und dürfte meine Kinder gar nicht sehen, auch wenn ich und sie das wollten?

          Dazu kann es leicht kommen. Meistens müssen Kinder die Grundschule in ihrem Bezirk besuchen. Nur in Ausnahmefällen werden Anträge genehmigt, die Schule zu wechseln. Dass Eltern gern eine Halbtagschule hätten, ist kein anerkannter Grund. Gibt es eine gebundene Ganztagsschule, also mit verpflichtendem Nachmittagsprogramm, muss das Kind da hin. Davon gibt es aber relativ wenige: 1200 Grundschulen in ganz Deutschland waren 2013 gebundene Ganztagsschulen, fast 7000 offene. Aber der Anteil nimmt zu. 155000 Grundschüler besuchten eine gebundene Ganztagsgrundschule, im Jahr 2009 waren es erst 117000. Besonders hoch ist der Anteil in Hamburg, Bremen, Sachsen; in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es fast nur freiwillige Nachmittagsschulen.

          Silke Herbrandt tat sich mit anderen Eltern zusammen und kämpfte für Freiräume. Sie hatten Erfolg. Die Grundschule in Sillenbuch wird zur offenen Ganztagsschule. „Bei uns in Stuttgart ist es so“, meint Silke Herbrandt, „dass es nur noch deshalb Halbtagsschulen gibt, weil Eltern Druck machen“. Eine Umfrage unter Eltern ergab dabei auch dort ein geteiltes Bild: die Hälfte war für Halb-, die andere Hälfte für Ganztagsbetreuung. Und in Hessen ergab eine Studie, dass 29 Prozent der Eltern eine verpflichtende Ganztagsschule wünschen, 30 Prozent die Ganztagsschule ablehnen und die anderen für Wahlmöglichkeiten sind.

          Ausbau von 24-Stunden-Krippen sollen forciert werden

          Es geht in der Schulpolitik nicht nur darum, was Eltern für ihre Kinder wünschen. Die Inklusion von behinderten Schülern oder die Integration von syrischen Flüchtlingskindern, die erstmal Deutsch lernen müssen, sind neue Aufgaben, dazu kommt der emanzipatorische oder ökonomisch motivierte Wunsch, dass Frauen nicht so lange von der Erwerbsarbeit fern bleiben. Schulen sollen in diesem Sinn zum Beispiel „mehr Gerechtigkeit und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ herbeiführen (Winfried Kretschmann, Grüne) oder, wie in Oberhausen nach Wunsch der kommunalen CDU dafür sogen, dass intensivierter Schwimmunterricht in Ganztagsschulen die Tatsache aus der Welt räumt, dass ein Drittel der Kinder nicht schwimmen kann, etwa aus schwimmskeptischen muslimischen Elternhäusern.

          Die Gemengelage führt dazu, dass keine relevante Partei gegen weiteren Ausbau der Ganztagsschulen ist, wobei es ein großer Teil der Eltern ist. CDU, FDP und die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sehen den wirtschaftlichen Nutzen der „Vereinbarkeit“, SPD, Grüne und Linke emanzipatorische Aspekte. Arbeitnehmern und Kindern aber auch mehr Freizeit zu ermöglichen, diese alte Idee, spielt in der großen Koalition keine große Rolle. In dieser Woche sagte die Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) sogar, sie wolle nun den Ausbau von 24-Stunden-Krippen forcieren. Dorthin könnten Arbeiter in der Nachtschicht oder spät arbeitende Kassiererinnen ihre Kleinkinder bringen. Die Wirtschaftsverbände sind sehr dafür.

          Der Umbau der Schullandschaft könnte „die Lebenswelt auf Dauer verändern“

          Der Ausbau der Ganztagsschulen nahm erst nach dem Pisa-Schock der 2000er Jahre Fahrt auf. Vor sechs Jahren waren noch 48 Prozent aller deutschen Schulen Ganztagsschulen, 5 Jahre später schon 59 Prozent oder 16198, die Hälfte davon Grundschulen. Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen sind derzeit besonders engagiert im Ausbau. Wenn es die Betreuungsangebote erst mal gibt und sie ein Großteil der Eltern annimmt, ist eine neue Normalität geschaffen. So dreht sich die Spirale, die von der Bullerbü-Kindheit in eine weitgehend von Pädagogen betreute Kindheit führt, die auch sehr schön sein kann.

          Klaus Zierer ist Professor für Pädagogik. Er sorgt sich um die Zeit, die Eltern noch mit ihren Kindern haben. „Die Ganztagsschule ist ein vielfältiges Element im Schulsystem, aber als alleiniges Angebot und Allheilmittel für alle Probleme finde ich es katastrophal“, sagt er: „Allen das Gleiche anzubieten, das ist ein zutiefst totalitärer Anspruch.“ Zierer hat sich daran gewöhnt, dass er als konservativ dargestellt wird wegen solcher Sätze. Zumal seine Frau gerade mit drei kleinen Kindern zu Hause ist in längerer Elternzeit, während er selbst auf langen Zugfahrten an seine Universität Oldenburg Bücher schrieb. Aber Zierer, der bald an der Universität Augsburg lehren wird und somit näher an seinen Kindern, geht es nicht um die Absolution eines Modells, sondern um ein vielfältiges Schulsystem. Vielen Kindern täte ein durchgetakteter Tagesablauf gut, vielen täte er aber auch nicht gut. „Die Fähigkeit zur Selbstregulation der Kinder ist ausgesprochen wichtig, die geht uns aber ein Stück weit verloren“, befürchtet er. Der Umbau der Schullandschaft könnte „die Lebenswelt auf Dauer verändern“. Zierer hat ein schönes Wort erfunden: Er redet vom „Bildungswert der Langeweile.“

          Der Unterricht wird über den Tag verteilt

          Vom Bildungswert der Langeweile wissen durchaus auch die Lehrer an der Basis. Die Frankfurter Willemerschule ist seit zwei Jahren Ganztagsgrundschule. Dort sieht der Stundenplan nicht so aus, wie in einer chinesischen Kaderschmiede. Die Kernschulzeit beginnt erst um 9 Uhr. „Das entspricht dem Biorhythmus der Kinder“, sagt die Ko-Rektorin Silke Krämer. Auf eine Doppelstunde folgt eine ausgedehnte Spiel- und Frühstückspause. Dann gibt es eine Stunde, in der Kinder nach Talenten oder Schwächen individuell gefördert werden, eine lange Mittagspause, dann noch mal eine Doppelstunde Unterricht. Danach, um 14.40 Uhr, ist der Pflichtpart vorbei. Bis 17 Uhr übernehmen Pädagogen von einem freien Träger, dem Internationalen Bund, die Nachmittagsmodule: Arbeitsgemeinschaften aus den Bereichen Musik, Bewegung oder Sport. Die Kinder können Gitarre, Cello, Flöte oder Klavier lernen, ein Mal in der Woche kommen Trainer von Eintracht Frankfurt und veranstalten ein Fußballturnier. Hausaufgaben gibt es nicht.

          Die Willemerschule praktiziert das Modell, das die Erziehungsgewerkschaft GEW präferiert, den sogenannten rhythmisierten Unterricht. Das heißt, dass nicht vormittags unterrichtet wird und nachmittags gespielt, sondern der Unterricht über den Tag verteilt wird, von Pausen und anderen Aktivitäten unterbrochen. An jedem Tag, an dem die Eltern das können und wollen, dürfen sie hier aber die Kinder auch früher holen, als um 17 Uhr. An der Willemerschule wollen das die Eltern. Etwa 90 Prozent der 330 Schüler, schätzt die Schulleiterin Alexandra Merkel, sind für das Ganztagsprogramm angemeldet.

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