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Arm und Reich : Wie steht es um die Ungleichheit?

  • -Aktualisiert am

Beteiligung nicht nur für Akademikerkinder: Der Bildungsgrad der Eltern entscheidet noch zu oft über den Schulerfolg der Kinder. Bild: dpa

Die Ungerechtigkeitsdebatte in Deutschland ist überzogen und birgt die Gefahr politischer Fehlentscheidungen. Der Korrekturbedarf liegt nicht dort, wo ihn die lautesten Kritiker vermuten. Ein Gastbeitrag.

          10 Min.

          Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Politik und Medien darüber klagen, Deutschland sei ein ungerechtes Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgehe. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist ein wichtiges Thema. Umso wichtiger ist es, die Entwicklung nüchtern und ausgewogen einzuordnen.

          Dem ist nicht gedient, wenn öffentliche Debatten über Verteilungsfragen so von alarmistischen Thesen geprägt sind, wie es derzeit in Deutschland der Fall ist. Zu den alarmistischen Thesen gehört zum Beispiel der Vorwurf, Deutschland hätte sein Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft aufgegeben. Das Gegenteil ist der Fall: Der Sozialstaat trägt entscheidend dazu bei, dass die Einkommensverteilung in Deutschland eine hohe Stabilität aufweist und sich zumindest in den vergangenen zehn Jahren nur wenig geändert hat.

          Weniger Ungleichheit, mehr Wachstum?

          Irreführend ist die verbreitete Behauptung, die unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher wären von der Wachstumsentwicklung abgehängt. In den letzten zehn Jahren war der Anteil dieser Gruppe an den gesamten verfügbaren Einkommen in Deutschland weitgehend stabil, ebenso wie der Anteil der oberen zehn Prozent.

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          Eine Fehlinterpretation ist die kürzlich sogar in einer OECD-Studie verbreitete Behauptung, das Wirtschaftswachstum in Deutschland wäre höher, wenn die Ungleichheit reduziert würde. Der von Ökonomen immer wieder angeführte Konflikt zwischen Verteilungszielen und Wachstumszielen bestehe also gar nicht. Dabei handelt es sich um Wunschdenken, das von ökonomischen Daten nicht gedeckt ist. Ein negativer Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum ist in Entwicklungs- und Schwellenländern zu beobachten, in Industrieländern geht mehr Ungleichheit dagegen im Durchschnitt mit mehr Wachstum einher. Das heißt allerdings nicht, dass Ungleichheit höheres oder niedrigeres Wachstum auch verursacht.

          Von der Auslagerung in Billiglohnländer profitiert

          Um die aktuelle Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland zu verstehen, sollte man mit der Beobachtung beginnen, dass die Entlohnung hoch und niedrig qualifizierter Arbeit sich in den vergangenen Jahrzehnten in allen Industrieländern zu Lasten niedrig qualifizierter Arbeit verschoben hat. Zwei Faktoren werden dafür verantwortlich gemacht. Erstens ist mit der Einbindung Chinas und anderer Schwellenländer in die globale Wirtschaft das Angebot an niedrig qualifizierten Arbeitskräften enorm angestiegen. Viele einfache Tätigkeiten sind aus Industrieländern in Schwellenländer verlagert worden.

          Das hat Millionen Menschen aus bitterer Armut befreit und die weltweite Ungleichheit reduziert. In den Industrieländern hat diese Verlagerung aber dazu geführt, dass die Löhne für niedrig qualifizierte Tätigkeiten in der Produktion handelbarer Güter gesunken sind. Hoch qualifizierte Beschäftigte und Eigentümer von Unternehmen haben von dieser Entwicklung dagegen profitiert. Gewinner sind außerdem wir alle als Konsumenten. Viele Waren können wir heute deutlich billiger und in besseren Qualität als in vergangenen Jahrzehnten kaufen.

          Ungleichheit der Einkommen steigt durch Digitalisierung

          Ein zweiter Faktor ist der technische Wandel. Mit dem Fortschreiten der Automatisierung, der Digitalisierung und der wachsenden Bedeutung komplexer Fertigungstechniken und Dienstleistungen steigt die Nachfrage nach gut ausgebildeten und hochspezialisierten Arbeitskräften, während viele Routinetätigkeiten durch Maschinen übernommen werden. Auch das treibt die Entlohnung auseinander.

          In Deutschland hat diese Entwicklung vor allem zwischen 1995 und 2005 Spuren hinterlassen. In diesem Zeitraum hat die Einkommensungleichheit spürbar zugenommen. Ein wichtiger Grund dafür war steigende Arbeitslosigkeit. Vor allem im Bereich niedrig qualifizierter Jobs gingen Arbeitsplätze verloren. Ein erheblicher Teil dieser wachsenden Ungleichheit wurde durch das Steuer- und Transfersystem aufgefangen. Trotzdem stieg die Ungleichheit der Nettoeinkommen ebenfalls an. Gemessen am Gini-Index, dem am meisten verbreiteten Ungleichheitsmaß, das Werte zwischen null und 100 annehmen kann, stieg sie von 26 im Jahr 1995 auf 29 im Jahr 2005.

          Seit zehn Jahren kaum Änderungen auf dem Arbeitsmarkt

          Der Anteil der 40 Prozent am schlechtesten verdienenden Haushalte am insgesamt verfügbaren Einkommen sank von 24,2 Prozent im Jahr 1995 auf 22,5 Prozent im Jahr 2005. Im gleichen Zeitraum stieg der Einkommensanteil der am besten verdienenden zehn Prozent von 21,3 auf 23,8 Prozent. Seit 2005 ist die Einkommensungleichheit aber nicht weiter angestiegen.

          Handlungsbedarf für die Politk: Die frühkindliche Bildung muss ausgebaut werden.
          Handlungsbedarf für die Politk: Die frühkindliche Bildung muss ausgebaut werden. : Bild: ddp

          Wichtigster Grund dafür war abermals der Arbeitsmarkt. Die Reformen der Agenda 2010 führten zu einer Wende in der Beschäftigungsentwicklung, die Arbeitslosigkeit begann zu sinken. 2014 war der Gini-Index der verfügbaren Einkommen unverändert bei 29, der Anteil der unteren 40 Prozent an den Nettoeinkommen lag bei 22,1 Prozent und der Anteil der oberen zehn Prozent bei 23,1 Prozent. Deutschland ist also ein Land, in dem sich die Einkommensverteilung in den vergangenen zehn Jahren praktisch nicht verändert hat. Man könnte den Eindruck haben, die Vertreter der Ungerechtigkeitsthese kämen zehn Jahre zu spät.

          Lohnzurückhaltung spielt wichtige Rolle

          Dagegen werden vier Argumente angeführt: Erstens sei die Einkommensungleichheit in den letzten zehn Jahren auf dem 2005 erreichten, erhöhten Niveau verblieben. Vom Abbau der Arbeitslosigkeit sollte man aber erwarten, dass er die Einkommensungleichheit reduziert. Das wäre richtig, wenn die zuvor verschwundenen Beschäftigungsmöglichkeiten für niedrig qualifizierte Arbeit zurückgekommen wären. Das ist aber nicht der Fall. Die eingangs erwähnten Faktoren, die höher qualifizierte Arbeit begünstigen, sind keineswegs verschwunden. Ein wichtiger Grund für die sinkende Arbeitslosigkeit liegt darin, dass die Lohnkosten vor allem in den unteren Lohngruppen in den letzten Jahren nur sehr moderat gestiegen sind. Gleichzeitig haben die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Arbeitslose schneller vermittelt werden, aber auch stärker unter Druck stehen, angebotene Stellen anzunehmen, selbst wenn die Bezahlung nicht hoch ist.

          Dies bedeutet nicht, dass hauptsächlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind, wie oft behauptet wird. Die Zahl voll sozialversicherungspflichtiger Vollzeitstellen ist zwischen 2005 und 2016 um 1,7 Millionen gestiegen. Trotzdem spielt Lohnzurückhaltung eine wichtige Rolle: Sie hat den Abbau der Arbeitslosigkeit ermöglicht, aber um den Preis, dass die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen trotz wachsender Beschäftigung zwar nicht gestiegen, aber auch nicht gesunken ist.

          Alterung der Gesellschaft als weiterer Faktor

          Hinzu kommen weitere Einflüsse, die mit demographischen Veränderungen zusammenhängen. Sie werden oft übersehen. Ein wichtiger Faktor, der Ungleichheit derzeit in Deutschland in die Höhe treibt, ist die Alterung der Bevölkerung. Einkommensunterschiede zwischen jungen Erwerbstätigen sind vergleichsweise gering, im Laufe der Erwerbskarriere wachsen diese Unterschiede an.

          Derzeit befindet sich mit der Babyboomgeneration eine besonders große Anzahl von Menschen im Alter zwischen 45 und 55 Jahren, einer Phase, in der die Ungleichheit der Einkommen besonders hoch ist. Wenn diese Generation in Rente geht und die Altersstruktur der Beschäftigten sich normalisiert, wird die Einkommensungleichheit automatisch sinken.

          Niedrigzinsphase steigert Vermögensungleichheit

          Zweitens argumentieren die Kritiker der Verteilungsverhältnisse, es komme gar nicht so sehr auf die Einkommensverteilung an, sondern auf die Vermögensverteilung. Hier ist die Datenlage schlechter als bei den Einkommen. Die Daten, die verfügbar sind, zeigen allerdings, dass sich die Vermögensungleichheit seit dem Jahr 2000 wenig verändert hat. Was sich in diesen Statistiken noch nicht voll niedergeschlagen hat, ist die Auswirkung der aktuellen Niedrigzinsphase und der damit einhergehenden Steigerung der Immobilienpreise, die vor allem in den Ballungsräumen erhebliche Ausmaße erreicht hat.

          Die geringe Wohneigentumsquote in Deutschland sorgt für eine ungleiche Verteilung der Vermögen.
          Die geringe Wohneigentumsquote in Deutschland sorgt für eine ungleiche Verteilung der Vermögen. : Bild: dpa

          Diese Entwicklung steigert die Vermögensungleichheit, denn gut die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland wohnt zur Miete und besitzt keine Immobilien. Man kann allerdings erwarten, dass die Immobilienpreise wieder sinken, wenn sich die Zinsen normalisieren.

          Deutschland schneidet im Vergleich besser ab

          Drittens verweisen die Vertreter der Ungerechtigkeitsthese auf internationale Vergleiche. In anderen Ländern seien Einkommen und Vermögen weniger ungleich verteilt. Was die Einkommensungleichheit angeht, überzeugt dieses Argument nicht. Im Gegenteil: Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ist nicht nur niedriger als im Durchschnitt der OECD-Staaten. Unter den G-7-Ländern weist Deutschland die niedrigste Einkommensungleichheit auf. Lediglich in einigen kleineren Ländern, vor allem in Nordeuropa, ist die Einkommensungleichheit noch niedriger als in Deutschland.

          Anders ist die Situation bei der Vermögensverteilung. Internationale Vergleiche weisen Deutschland als ein Land mit hoher Vermögensungleichheit aus. Zwar sind die Vermögen in den Niederlanden und in Österreich nach OECD-Zahlen noch ungleicher verteilt, aber in Ländern wie Großbritannien, Italien und Frankreich sind die Vermögen gleicher verteilt.

          Renten und Pensionen in Rechnungen nicht einbezogen

          Hauptgrund ist die erwähnte geringe Wohneigentumsquote in Deutschland. Teils ist sie dadurch bedingt, dass der Mieterschutz hierzulande sehr stark ausgebaut ist. Teils liegen die Ursachen in historischen Besonderheiten, vor allem der Zuwanderung von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland.

          Ein Problem internationaler Vergleiche der Vermögensverteilung liegt darin, dass Renten- und Pensionsansprüche in der Regel ausgeklammert werden. Damit wird ein wichtiger Vermögensbestandteil vernachlässigt. In Deutschland spielen Renten und Pensionen eine größere Rolle als in anderen Ländern. Wenn man das einbezieht, relativiert sich die Vermögensungleichheit in Deutschland, sie bleibt im Vergleich zu vielen anderen Ländern trotzdem hoch.

          Defizite in der Schulbildung

          Viertens entzündet sich Kritik an der Chancengerechtigkeit und der sozialen Mobilität. Der Vorwurf lautet, in Deutschland sei es für Menschen aus Schichten mit niedrigen Einkommen kaum möglich, aufzusteigen. In dieser Pauschalität ist der Vorwurf überzogen, trotzdem gibt es hier Defizite. Überzogen ist der Vorwurf insofern, als Deutschland durch den starken Ausbau des Schul- und Hochschulsystems seit den sechziger und siebziger Jahren den Zugang breiter Schichten zu Bildung enorm verbessert hat. Hinzu kommt, dass das System der dualen Ausbildung Jugendlichen aller Schichten den Einstieg ins Berufsleben erleichtert. Das Ergebnis ist eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Deutschland hat auf diesem Gebiet Modellcharakter für viele andere Länder.

          Soziale Mobilität unmöglich? Der starke Ausbau des Hochschulsystems ermöglicht breiteren Schichten einen Zugang zu Bildung.
          Soziale Mobilität unmöglich? Der starke Ausbau des Hochschulsystems ermöglicht breiteren Schichten einen Zugang zu Bildung. : Bild: dpa

          Defizite bestehen dagegen in der Schul- und Vorschulbildung. Im deutschen Schulsystem wirkt sich der Bildungsstand der Eltern stärker auf die schulische Entwicklung der Kinder aus als in anderen Ländern. Bei gleichem Kompetenzniveau der Schüler ist die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, für ein Kind aus einer Akademikerfamilie viermal so hoch wie für ein Kind aus einer Arbeiterfamilie. Damit werden große Ausbildungspotentiale verschenkt.

          Zu Hohe Umverteilung führt zu Abwanderung

          Besteht politischer Handlungsbedarf, und, falls ja, was sollte die Politik tun? Ob die bestehende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen als zu hoch, zu niedrig oder gerade richtig angesehen wird, ist eine Frage politischer Werturteile. Die Möglichkeiten, die Verteilung durch politische Eingriffe zu verändern, sind allerdings begrenzt. Das gilt vor allem für Steuerreformen mit dem Ziel, die bestehende Umverteilungswirkung des Steuer- und Transfersystems weiter zu steigern. Die bestehende Umverteilungswirkung kann man daran messen, wie sehr es die Ungleichheit der Einkommensverteilung, die sich am Markt ergibt, reduziert.

          Deutschland gehört heute schon zu den vier Ländern in der OECD, in denen die Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat am größten ist. Das weiter in die Höhe zu treiben führt dazu, dass Leistungsträger und Nettozahler im Wohlfahrtsstaat das Land verlassen und Leistungsempfänger bleiben oder zuwandern. Es besteht aber Einigkeit darüber, dass Deutschland das Gegenteil braucht: Zuwanderung von hoch qualifizierten Migranten, die das Wachstum fördern und mehr in die öffentlichen Kassen einzahlen, als sie an Transfers und öffentlichen Leistungen erhalten.

          Kapitalflucht wegen Vermögenssteuer?

          Ähnliches gilt für Pläne, die vermögensbezogenen Steuern auszubauen. Verschiedene politische Parteien fordern die Einführung einer Nettovermögensteuer. Dabei wird leicht übersehen, dass eine Vermögensteuer in Höhe von einem Prozent bei einem Vermögensertrag von beispielsweise vier Prozent einer Erhöhung der Einkommensteuer um 25 Prozentpunkte entspricht, bei Steuerzahlern im Bereich des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent würde das eine Steuererhöhung auf 70 Prozent bedeuten. Es wäre sogar noch schlimmer, denn bei einem Einbruch der Vermögenserträge in einem Wirtschaftsabschwung würde die Einkommensteuerlast ebenfalls sinken, die Vermögensteuerlast aber nicht.

          Die Einführung einer solchen Vermögensteuer würde zu einer Kapitalflucht und einem Einbruch der Investitionen führen. Dem wird oft entgegengehalten, die vermögensbezogenen Steuern seien in Deutschland niedriger als in anderen Ländern. Das ist richtig, liegt aber nicht daran, dass andere Länder Nettovermögensteuern der oben beschriebenen Art erheben. Viele Länder um uns herum – darunter auch der Wohlfahrtsstaat Schweden – haben nicht nur Vermögensteuern, sondern auch Erbschaftsteuern ganz abgeschafft. Die Unterschiede ergeben sich dadurch, dass andere Länder höhere Grundsteuern erheben. Diese Steuern sind gerade in Zeiten zunehmender Globalisierung attraktiv, denn Grund und Boden kann nicht ins Ausland abwandern. Bei internationalen Vergleichen ist allerdings zu bedenken, dass Grundsteuern im Ausland häufig kommunale Dienste wie etwa die Müllabfuhr finanzieren, während in Deutschland dafür Gebühren erhoben werden.

          Frühkindliche Bildung ausbauen

          Während Spielräume für mehr Umverteilung durch das Steuersystem sich im Wesentlichen auf eine Erhöhung von Grundsteuern beschränken, kann die Politik bei der Gestaltung der öffentlichen Ausgaben mehr ausrichten. Um die Chancen von Kindern aus bildungsfernen Schichten zu steigern, sollte die frühkindliche Bildung in Kindergärten und Grundschulen verbessert werden. Derzeit fließen öffentliche Mittel in Deutschland stark in die Hochschulausbildung und weniger in die frühkindliche Bildung. Das sollte zugunsten der frühkindlichen Bildung verändert werden. Hochschulausbildung sollte vermehrt mit Studiengebühren finanziert werden. Im Bereich der Kindergärten und Kindertagesstätten sollten Gebühren nicht abgeschafft werden, solange sie einkommensabhängig sind, denn dieses Geld würde für eine Verbesserung der Ausbildungsqualität fehlen. Zusätzlich sollten mehr öffentliche Mittel bereitgestellt werden.

          Clemens Fuest ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts.
          Clemens Fuest ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts. : Bild: dpa

          Darüber hinaus sollte die Politik bei sozialpolitischen Ausgabenprogrammen stärker berücksichtigen, ob sie wirklich Bedürftigen zugutekommen. Eine Politik, die durch Reformen wie die Rente ab 63 viele Milliarden Euro pro Jahr an prinzipiell gut versorgte Rentner umverteilt, sollte nicht darüber klagen, dass zu wenig Geld für Investitionen im Bildungsbereich zur Verfügung steht.

          Ungleichheit in der Bevölkerung überschätzt

          Deutschland ist kein ungerechtes Land, sondern eine Volkswirtschaft mit einem der am stärksten ausgebauten Sozialstaaten der Welt. Grundlegende wirtschaftliche Veränderungen wie die Verlagerung der Nachfrage hin zu höher qualifizierter Arbeit kann auch dieser Sozialstaat nicht aus der Welt schaffen. Aber er kann die Folgen für die Einkommensverteilung dämpfen, und genau das ist in Deutschland geschehen.

          Das heißt nicht, dass es keinen Reformbedarf gibt. Kritiker der Verhältnisse weisen zu Recht darauf hin, dass es im deutschen Schul- und Ausbildungssystem Reformbedarf gibt, damit Kinder aus bildungsfernen Schichten bessere Aufstiegschancen erhalten. Außerdem wäre breitere Beteiligung an der Vermögensbildung wünschenswert, schon deshalb, weil Vermögensbildung in einer alternden Gesellschaft für die Altersvorsorge wichtig ist.

          Die aufgeregte Debatte über Ungleichheit in Deutschland hat dazu geführt, dass in weiten Kreisen der Bevölkerung die bei uns herrschende Einkommensungleichheit drastisch überschätzt wird, wie Umfragen belegen. Diese verzerrte Informationslage kann leicht zu politischen Fehlentscheidungen führen, welche die positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den vergangenen Jahren gefährden könnten. Damit wäre niemandem gedient.

          Der Autor Clemens Fuest ist seit einem Jahr Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Sein Mentor und Vorgänger Hans-Werner Sinn müsste mit ihm zufrieden sein. Der 47 Jahre alte Ökonom ist im Wahljahr gefragter denn je, weil er meist unaufgeregt Argumente gegen Fakten wägt und die wirtschaftlichen Folgen unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Geschickt sucht er dabei Einsicht in Lösungen zu fördern, die seinem Ideal eines freiheitlichen, wettbewerbsfreundlichen und finanziell stabilen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems dienen. Da er die Zwänge der Politik kennt, weiß er, dass Erfolge selten sind.

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