Ein deutsches Phänomen : Mehr Mut zu Mathe
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Ui, ui, ui, ist das schwer... Bild: dpa
Mathematik ist eine wichtige Grundlage des Alltags, doch viele Menschen tun sich damit schwer. Viele vertrauen blind Algorithmen. Über ein deutsches Phänomen.
Mathematik hat ein Problem: Ihr Image ist bei vielen Menschen schlecht. So schlecht, dass sie gar nicht merken, welche Probleme sie ohne Mathematik haben. „In Deutschland ist es cool, wenn man sagt, dass man Mathe in der Schule nicht konnte“, sagt Mathematik-Professor Christian Hesse von der Universität Stuttgart. „Damit kann man punkten.“ Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung spricht sogar von einem „Volk von Zahlenblinden“.
Zugleich werden wir im Alltag immer häufiger mit Daten und Statistiken konfrontiert. „Es ist wichtig, dass man dafür ein Verständnis hat“, sagt Hesse. „Gerade Statistiken können leicht manipuliert werden. Wir sollten die Schlüsse, die andere für uns daraus gezogen haben, kritisch einschätzen können.“
Psychologe Gigerenzer, der Direktor des Forschungsbereichs Adaptives Verhalten und Kognition ist, sagt: „Große Teile der Gesellschaft bemerken nicht, dass sie Dinge nicht verstehen.“ Das gelte für Laien wie für Experten gleichermaßen.
So könnten viele nicht zwischen absolutem und relativem Risiko unterscheiden. Als eine Behörde der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor zwei Jahren verbreitet hatte, dass das Darmkrebs-Risiko je 50 Gramm verzehrtem, verarbeitetem Fleisch am Tag um 18 Prozent steige, sei die Sorge groß gewesen. Absolut sei die Gefahr einer Krebserkrankung aber nur von 5 auf 5,9 Prozent gestiegen, verdeutlicht Gigerenzer. „Das ist ein Machtinstrument: Man erregt Ängste und Aufmerksamkeit.“
Wie ambivalent das Verhältnis zur Mathematik ist, verdeutlichen einige Beispiele: Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit setzen Tausende Spieler auf das große Glück beim Lotto. Auch Erwachsene greifen bei Kopfrechenaufgaben zum Taschenrechner. Die negative Grundhaltung gegenüber der Mathematik sei ein ziemlich deutsches Phänomen, sagt Hesse: „In Frankreich und skandinavischen Ländern ist das anders.“ Dort werde Mathematik als große Kulturleistung angesehen. Die Leistung von Menschen, die sich mit Mathematik beschäftigen, werde höher eingeschätzt.
Gleichzeitig vertrauen auch Mathe-Skeptiker auf Dinge, die sie nicht verstehen: kompliziert errechnete Kryptowährungen, Algorithmen bei Partnerbörsen im Internet, der Beitragsauswahl in Sozialen Netzwerken oder Suchmaschinen. Sie setzen also bei so wichtigen Aspekten wie Geld und Liebe auf Mathematik. Das Internet der Dinge - vernetzte (Haushalts)geräte - ist quasi in aller Munde, ohne dass die meisten Menschen die Technologie dahinter durchschauen.
„Deutschland ist ein Land der Ingenieure, beim Technikthema fühlen wir uns sicher“, sagt Brigitte Witzer, die unter anderem als Expertin für Risikointelligenz Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik coacht. Daher das Vertrauen auf Mathematik und Technik, auch wenn sie nicht durchdrungen werden. „Wir Deutschen lieben es, zu funktionieren.“ Das mache uns gewissermaßen maschinenähnlich.
Mathematiker Hesse sagt, man brauche ein „quantitatives Bauchgefühl“, um Dinge unter Zeitdruck, nur mit Teilinformationen und ohne riesige Rechnerkapazitäten, zu hinterfragen. „Das kann man sich antrainieren“, sagt der Autor von „Das kleine Einmaleins des klaren Denkens“ und zahlreicher anderer Mathe-Bücher.