Stau auf der Autobahn : Stillgestanden
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Hoffen und Harren: Die Blechlawine rollt nicht mehr. Bild: obs
Das Auto ist und bleibt das Reisemittel Nummer eins. Dass es nicht immer vorangeht, stört doch nicht. Früher war das natürlich ganz anders.
Wir lagen nicht vor Madagaskar und hatten nicht die Pest, aber meine jüngeren Geschwister an Bord. Diese rauften und rangelten seit Stunden. Vaters Hemdkragen war feucht, Mutters Frisur längst hinüber, und die Bonbons klebten an den Lehnen der Vordersitze. Das war immer so. Wir standen am Irschenberg, in der Abfahrt zu den Stränden von Ostia auf der römischen Cristoforo Colombo, nachts um zwei am Brenner, zum Sonnenaufgang dann vor der Abfahrt zum Gardasee, in der Frühe eines kalten Tages am Kölner Ring oder vor der Banhnverladung nach Sylt.
Wir zählten aus Langeweile im Stop-and-go die Etagen der Mietshäuser am Mittleren Ring in München und führten penibel Buch über die Menge der Motorroller, die sich auf dem Pariser Périphérique halsbrecherisch an uns vorbeischlängelten, oder lauschten über Stunden hinweg dem Klang eines roten Ferrari Testarossa vor der Mautstation südlich von Lyon.
Wir waren eine topmobile Familie, und Vater negierte mit preußischer Konsequenz die Einführung des Schienenverkehrs und die Erfindung der Luftfahrt. Alle gingen in den Sommerurlaub. Wir fuhren und standen im Stau. Wochen unserer Kindheit verbrachten wir zu dritt auf dem Rücksitz von beständig größer werdenden Fahrzeugen, die zwar mehr Raum, aber kein besseres Vorankommen boten.
Der Stau hat uns durch das Leben begleitet, jetzt harrt er mitleidlos jeden Morgen während unseres Weges ins Büro auf uns. Vor zwanzig Jahren gab es zwei Spuren in jeder Richtung, jetzt sind es vier, und der Stau ist immer noch der Sieger. Er nimmt uns die mobile Freiheit, raubt kostbare Zeit und vernichtet teure Energie.
Kühlsysteme und Temparamente kochten über
Durch das Aufkommen der elektronischen Wegweisung hat sich vieles verändert. Denn jetzt entkommen wir zwar nicht dem Stau, wissen aber, wann wir wo zum Halten gezwungen werden, verlassen deshalb die Autobahn und stranden dann auf der Umleitungsstrecke in einem kleinen Ort.
Früher war im Stau alles ehrlicher, nämlich gereizter. Die längst obsolete Parole der freien Fahrt für freie Bürger offenbarte noch einen Rest von Anspruch, und aus diesem heraus kam es zu staubedingten Ausfällen menschlicher Temperamente. Es wurde gestritten und geschimpft, Kühlsysteme und Fahrertemperamente kochten über, schnell machten Gerüchte über Totalsperrungen die Runde.
Heute weiß jeder alles, und keiner regt sich noch auf. Der Stau ist immer und überall. Vielleicht wird er deshalb weniger beklagt, Resignation ist die Reaktion, mitunter wird er fast schon vermisst. Wenn er bei einer Fahrt zum Termin nicht eintritt, sind wir zu früh am Check-in. Dann will uns noch keiner haben.
Das Auto wird zum Lebensraum
Dass der Stau seit ein paar Jahren leichter zu ertragen ist, das liegt an den Autos und an uns. Klimatisierung, automatische Getriebe ohne lästiges Kuppeln und Schalten, sogar automatisiertes Anfahren und Halten und bequemere Sitze sorgen für schöneres Wohnen. Man richtet sich ein im Unvermeidlichen, resigniert und kapituliert.
Das Auto ist unsere Kammer der Abgeschlossenheit, es initiiert aus einem verborgenen Reservoir die Wohlgerüche des Orients, es liest uns Harry Rowohlt eine Geschichte vor, oder wir sind mit Kara Ben Nemsi im Land der Skipetaren unterwegs.
Das Auto wird zum Lebensraum, jeder ist allein und doch mit der Welt verbunden, niemals einsam, alles unsere Brüder und Schwestern, vor, neben und hinter uns, der Stau ist der große Gleichmacher, jeder kommt da mit, Tempolimits und Überholverbote, ach, was kümmert’s, der Stau ist unser Leben, in der Ruhe liegt die Kraft. Denn die Erfahrung lehrt, es geht irgendwann weiter. Es hupt hinter uns, wir sind ein wenig eingenickt. Also vorwärts, wir müssen zum nächsten Stau.