Historiker im Interview : Sollten wir alle bald siebzig Prozent Steuern zahlen?
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Forder einen Spitzensteuersatz von 70 Prozent: Die amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez. Bild: Reuters
Rutger Bregman fordert drastische Steuererhöhungen – und sorgte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos damit für riesige Aufregung. Im Interview erklärt der Historiker seine Argumente und spricht über die Verbindung zwischen Grundeinkommen und Klimakrise.
Herr Bregman, in den Vereinigten Staaten hat die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez vorgeschlagen, den Spitzensteuersatz auf 70 Prozent anzuheben. Sie hatten beim Weltwirtschaftsforum in Davos in eine ähnliche Richtung argumentiert und heftig kritisiert, dass die Reichen zu wenig Steuern zahlen. Wie sind die Reaktionen?
Ich habe seither Tausende von E-Mails von Menschen aus aller Welt bekommen, die mir für diese Kritik danken.
Sie haben auch darauf verwiesen, dass es in den Vereinigten Staaten unter dem republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower einen Spitzensteuersatz von 91 Prozent gab und dieser Ende der sechziger Jahre noch das Doppelte von den heutigen 37 Prozent betrug.
Das ist mein Beispiel dafür, dass es tatsächlich funktioniert hat. Auch, wenn ich Kritiker in Europa höre.
Aber ist das Modell eines deutlich höheren Spitzensteuersatzes auf die heutige Zeit übertragbar?
Man muss doch erst einmal grundsätzlich festhalten: Wer hätte gedacht, dass ein Historiker aus Holland mit einer Rede über Steuern so viel Aufmerksamkeit bekommt? Das Thema wäre vor zehn Jahren noch schlichtweg vom Tisch gewischt worden. Heute nicht mehr – und das zeigt, dass AOC, Alexandria Ocasio-Cortez, oder jemand wie ich und viele andere, die mir geschrieben haben, Teil einer größeren globalen Bewegung sind. Es gibt eine Ungleichheit in der Gesellschaft, in den Vereinigten Staaten und anwachsend auch hier in Europa, mit der wir uns beschäftigen müssen. Und natürlich haben sich die Zeiten geändert, aber deshalb ist es ja nicht unmöglich, bestehende Modelle zu verändern.
Tausende haben positiv auf Ihre Kritik in Davos reagiert. Auch Millionäre? Politiker?
In den Vereinigten Staaten zum Beispiel gibt es aktuelle repräsentative Erhebungen zur Frage, ob der Spitzensteuersatz angehoben werden sollte. 59 Prozent der Befragten hielten es für eine gute Sache. Selbst wenn Mainstream-Politiker und Millionäre noch nicht vollzählig dazugehören, ist ein gesellschaftlicher Wandel, ein Umdenken, doch nicht von der Hand zu weisen. Vom Weltwirtschaftsforum wurde ich nach meiner Kritik angefragt, mit einigen Experten zum Thema Steuern mit Schwerpunkt Steuervermeidung zu arbeiten.
Haben Sie zugesagt?
Ich habe geantwortet, dass sie besser Experten zu diesem Thema einladen wie Emmanuel Saez, Gabriel Zucman oder Thomas Piketty. Aber noch einmal kurz zum Spitzensteuersatz.
Ja?
Was AOC vorschwebt, ist ja ein Schwellenwert von zehn Millionen Dollar, ab da würde der Spitzensteuersatz greifen. In den Vereinigten Staaten ginge es um etwa 16 000 Menschen, die von dem Spitzensteuersatz betroffen wären. Jetzt wollen Sie „aber“ sagen …
Was denken Sie denn, ist mein Einwand?
So etwas, wie: „Aber sinkt bei höheren Steuersätzen nicht grundsätzlich die Leistungskraft in der Gesellschaft.“
Sie halten das für eine unberechtigte Sorge?