Revolutioniert Mariam Kamara die Architektur in Afrika?
Mariam Kamara aus Niger arbeitete als Softwareentwicklerin in den Vereinigten Staaten, bevor sie Architektur studierte. Sie gilt heute weltweit als eine der interessantesten neuen Köpfe der Branche.
8. April 2021
Text: KATHARINA RUDOLPH
Während ihres Architekturstudiums in Washington machte Mariam Kamara eine prägende Erfahrung: Die Bücher, die sie las, handelten fast ausschließlich von europäischer und nordamerikanischer Baugeschichte. „Aber lange vor dem Aufstieg der europäischen Zivilisationen gab es in den alten Architekturen Afrikas, des Nahen Ostens und Südamerikas hochentwickelte Lösungen für den Umgang mit den Herausforderungen der Umwelt.“ Dennoch werde Architektur oft so gelehrt, als habe nur Europa eine Geschichte, betont Kamara.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenGeboren 1979 in der Republik Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, arbeitete sie erst viele Jahre in den Vereinigten Staaten als Softwareentwicklerin, bevor sie Architektur studierte. 2014 gründete sie ihr eigenes Büro: atelier masōmī in Niamey, Nigers Hauptstadt. International avanciert Kamara, die in Niger und in den USA lebt, zur Ikone einer selbstbewussten, innovativen Architektur in Afrika. Das Style-Magazin der „New York Times“ lobte sie als eine von „15 Creative Women for Our Time“, die amerikanische Ausgabe des „Architectural Digest“ setzte sie 2021 auf die renommierte AD100-Liste, und das „Gray“-Magazin machte die Nigrerin sogar zum Covergirl. Die Fachzeitschrift „Domus“ nahm sie in den erlauchten Kreis der hundert weltbesten Architekten auf, für 2021 wurde atelier masōmī zur Architekturbiennale nach Venedig geladen.
Masōmī bedeutet so viel wie Anfang. Alle Architekturstandards folgten westlichen Vorbildern, als seien die „eine Art universale Wahrheit“, meint Kamara. Sie wagt einen Neubeginn, entwickelt eine Architektursprache, die verwurzelt ist in der reichen Baukultur ihrer Heimat und die Antworten auf deren besondere gesellschaftliche, klimatische und kulturelle Herausforderungen sucht. Ein erstes Projekt, „Niamey 2000“, stemmte Kamara mit der iranischen Kollegin Yasaman Esmaili: sechs zweigeschossige Wohneinheiten für die wohlhabende Mittelschicht in der rasant wachsenden Kapitale Niamey – aus Lehmziegeln. Das war fast eine Provokation, Lehm gilt als Baustoff für Arme, unbeständig und primitiv. Klug verbaut aber ist Lehm stabil, günstig, fördert die lokale Wirtschaft und reguliert hervorragend das Raumklima an einem Ort, an dem es 45 Grad heiß wird. Im Westen sind großflächige Fenster beliebt, in „Niamey 2000“ sind es winzige Schießscharten. Zum Schutz vor der gleißenden Sonne, aber auch weil Privatheit in dem muslimischen Land anders definiert wird. Licht und Offenheit gibt es vor allem zu Innenhöfen, die Teil der eigenen Wohnung sind.
In Niger findet das öffentliche Leben auf der Straße statt. Parks, Bibliotheken oder Museen gibt es nicht oder kaum. So treffen sich junge Männer meist vor ihren Wohnhäusern, spielen Karten, schlürfen Pfefferminztee und diskutieren über Politik. Diese Zusammenkünfte, Faada genannt, hat Kamara in Architektur überführt: An die „Niamey 2000“-Fassade docken lange Bänke an, die ein Miteinander ermöglichen, ohne dass erst Stühle herangeschleppt werden müssen. Architektur folgt hier den Bedürfnissen von Mensch und Gesellschaft.
In Niger haben Kinder viel Freiheit, ebenso Männer und ältere Frauen. Junge Frauen dagegen können sich in der Öffentlichkeit meist nur in Bewegung treffen. In einem Café oder wie die Männer bis spätabends bei der Faada zu sitzen wäre ein Zeichen verwahrloster Moral. „Mobiles Herumtrödeln“, wie Kamara es nennt, ist oft ihre einzige Möglichkeit, einander jenseits von Schule, Sport, Arbeit oder Einkaufen draußen zu treffen. Als sie Teenager war, brachten sie und eine Freundin sich stundenlang gegenseitig nach Hause. Sie liefen endlos hin und her, denn wenn Frau scheinbar auf dem Weg irgendwohin ist, gilt das als unverdächtig. Kamara schlug in ihrer Masterarbeit vor, in Niamey eine Route entlang zentraler Orte wie Schulen oder dem Nationalmuseum zu etablieren, auf der Mädchen (teils gemeinsam mit Jungs) an kleinen architektonischen Interventionen – zu Lernorten umfunktionierten Hauswänden, Märkten oder Amphitheatern – haltmachen und sich treffen können; um den Stadtraum so peu à peu zu erobern.
Bauen nach afrikanischen Maßstäben und Traditionen, nicht nach westlichen – mit diesem Ansatz macht die nigrische Architektin Mariam Kamara international Furore.
Als Materialien empfahl sie, inspiriert vom informellen Bauen in Niameys Straßen, Palmenblätter, alte Plastikkanister, Lehm. Nachhaltigkeit ist für sie wichtig, aber Solarpaneele etwa seien viel zu teuer, und lauter Bäume zu pflanzen ist in einem Wüstenland auch nicht gerade umweltfreundlich. Zur Kühlung eines Marktes, den Kamara 2018 für das 3000-Einwohner- Dorf Dandaji baute, verwandte sie verschieden hohe, bunte Platten aus recycelten Metall, die sie rhythmisch anordnete. Von oben wirkt es, als tanzten die Blechschirme eine Quadrille. Kamara braucht keine opulenten Designs und ausgefeilte Hightechbaustoffe. Ihre Lösungen sind simpel und unprätentiös, aber brillant, haben oft eine mystische, sinnliche, suggestive Ästhetik.
Bereits 2017 hatte es Kamara nach Dandaji gezogen, sieben Stunden von Niamey entfernt. Die Dorfbewohner wollten eine verfallene Lehm-Moschee abreißen und durch einen größeren Betonbau ersetzen. Kamara und Esmaili – die beiden Architektinnen arbeiteten auch hier zusammen – überzeugten sie, das alte Gebäude (von einem Maurermeister, der für einen ähnlichen Bau 1986 den Aga Khan Award bekommen hatte) zu erhalten. Es wurde restauriert und in eine Bibliothek mit Räumen etwa für Alphabetisierungskurse verwandelt, daneben entstand ein neues Gotteshaus, beides verbunden durch eine weitläufige Außenanlage – eine Oase in der Wüste und in einer Gesellschaft, in der etwa 65 Prozent der Menschen über 15 Jahre Analphabeten sind, darunter weitaus mehr Frauen als Männer.
Hikma, so heißt der Gebäudekomplex in Dandaji, ist inspiriert vom Bayt al-Hikma, einem mittelalterlichen „Haus der Weisheit“ in Bagdad, wo einst Gelehrte über geistliche wie weltliche Fragen sinnierten. Jugendliche in Niger „haben wenig Zugang zu Bildung, aber viel zu Religion. Wir sind umgeben von Ländern wie Nordnigeria mit Boko Haram, wir haben Mali, Algerien und Libyen. Da können sich junge Menschen schnell radikalisieren“, sagte Kamara auf einer Konferenz. In Dandaji treten säkulares Wissen und Religion mittels Architektur in einen friedlichen Dialog. Die alte Moschee wurde nur von Männern besucht, die neue hat auch einen Gebetsraum für Frauen. Kamara ist auch eine Reformerin für die Rechte der Frauen.
Das neueste Projekt von atelier masōmī hängt mit einem besonderen Ort in Niamey zusammen. Einst durch den Masterplan der französischen Kolonialmacht entlang eines flachen Tals in zwei Teile geteilt, trennt diese natürliche Barriere die Stadt noch immer in Arm und Reich. Kamara will den Grenzstreifen im Auftrag der Stadt aufwerten und die Bezirke annähern. Dafür entwarf sie ein Kulturzentrum, einen Mix aus öffentlichen Plätzen und Gebäuden, einen Ort für alle, der stolz machen, aber nicht einschüchtern will und für den auch eine städtische Bücherei geplant ist. Die nämlich gibt es in Niamey bisher nicht. Und die wünschten sich besonders die nigrischen Jugendlichen, mit denen Kamara regelmäßig Workshops veranstaltet, um herauszufinden, was die zukünftigen Nutzer ihrer Gebäude eigentlich wollen und brauchen.
Platz 189 von 189 belegt Niger auf dem Human Development Index, der sich aus den Faktoren Lebenserwartung, Bildungsniveau und Pro-Kopf-Einkommen ergibt. Da erscheint es folgerichtig, dass Kamara vorerst nur in ihrer Heimat wirken will. Aber auch hierzulande wird man noch viel von ihr hören. Von einer Frau, die überzeugt ist: „Die Zukunft stellt uns vor Herausforderungen wie die Klimakrise, rasante Urbanisierung und Bevölkerungsexplosionen, für die wir in der Architektur erst dann wirkliche Lösungen entwickeln können, wenn wir unsere Sichtweise dekolonisieren.“
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Quelle: F.A.Z. Quarterly
Veröffentlicht: 08.04.2021 13:30 Uhr
