Berliner Modewoche – Tag 4 : Recht auf Vergessen
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Mode aus Stein: Marina Hoermanseder Bild: dpa
Not macht erfinderisch: Ein Designer arrangiert am vierten Tag die Sitzreihen im Schauentheater neu, ein zweiter späht seine Gäste aus und eine dritte singt vor versammeltem Modepublikum.
Große Überraschung heute Morgen um zehn Uhr im Eisstadion: In die Schau von Hien Le gelangt man, ohne zuvor zwanzig Minuten lang in einem überfüllten Vorraum warten zu müssen, ohne sich mit Hunderten anderen durch das schmale Nadelöhr des Eingangs ins eigentliche Schauentheater zu drängen. Die Bänke hat Hien Le zu einem W aufstellen lassen. Als einziger Designer der Berliner Modewoche hat er sich für diese Sitzordnung entschieden. Seine Kollektion polarisiert da ein bisschen weniger. Hien Le weiß um den Erfolg seiner Basics, den weißen Seidenblusen, den Chinos und Bermudas, den kurzen Kostümen, den Krankenhaus-Shirts und Blaumännern für Herren. Er experimentiert mit einem lindgrünen Leder und einem besonders aufgeräumt anmutenden Waffelstoff. Die Fans seiner zurückgenommenen, sauberen Ästhetik wischen wahrscheinlich schon die Schränke aus.
Auch nach der Schau flutscht es nur so auf dem Weg hinaus in die Sponsorenhalle. Die Location Erika Hess, eigentlich ein Ärgernis, wie diese Modewoche gezeigt hat, wird am letzten Tag zur echten Alternative. Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass die Fashion Week zum Ende hin besonders schlecht besucht zu sein scheint. Dabei gibt es an diesem Freitag so viele Highlights zu sehen, wie an keinem anderen Tag zuvor, nämlich gleich drei.
Highlight Nummer eins: Die Präsentation der Herrendesignerin Sissi Goetze. Ihre Marke baut sie mit den Kollektionen von Saison zu Saison immer weiter auf. Sie vertraut auf das gewollt Schrullige, ihr eigenes, selbstbewusstes Markenzeichen. Die Hosen sitzen immer eine Spur höher als bei anderen Designern, am Saum sind sie etwas kürzer, die Hemden sind bis oben hin zugeknöpft und darüber schichtet der Sissi-Goetze-Mann gerne noch ein zweites Hemd. Zugleich geht diese neue Kollektion einen Schritt weiter und spielt mit Sommermotiven, die für viele Männer wohl einfach dazugehören: Das Hawaiimuster, Illustrationen von Pin-Up-Girls. Zum sowieso schon ironischen Touch ihrer Kollektion könnte die Idee nicht besser passen.
Highlight Nummer zwei: Die Schau von Marina Hoermanseder. Sie mag es nicht, wenn es flattert. Daran lässt sie keinen Zweifel, und zeigt Stücke, die ihr am Freitagnachmittag Standing Ovations bescheren: Einen Rock und ein Cape aus Naturstein. Hauchdünne Schieferplatten hat sie dafür auf Mikrofaser angebracht, und sie solange durch Temperatur und Feuchtigkeit bearbeitet, bis der Stoff formbar wurde. Jetzt bewegt er sich keinen Zentimeter mehr. Die Österreicherin, die mit ihrer Debütkollektion im Januar weltweit die Presse erregte, hat Anleihen an orthopädische Prothesen und Apparaturen aus dem 17. Jahrhundert zu ihrem Markenzeichen gemacht. Bei dieser Handwerkskunst kann man fast schon von Couture sprechen. Am Montag erst brachte ihr das den Young Designers Award der Messe Premium ein. Ein Korsett im Nude-Ton mutet aus der Ferne an, als würde es seine Trägerin entblößen, aber die vermeintlichen Bondage-Elemente wirken nicht obszön, weil sie in Kombination mit kühlen Pastelltönen – ein leichtes Gelb, Aprikose oder Enzianblau – plötzlich tragbar und nicht mehr klinisch wirken. Dabei gibt es für Hoermanseders Entwürfe sogar schon einen etablierten Markt – Medical-Fetisch-Fans freuen sich im Netz über den Erfolg der aufstrebenden Designerin. Der Ruf als Fetisch-Frau ficht Hoermanseder nicht an. Sie spielt mit dem Image: Die strengen Lederschnallen, die sie in der vergangenen Saison erst bekannt machten, verbindet sie nun zu einem langen Rock, mal sieht man sie an Sneakern. Nach der Schau wird eine Kundin in orthopädischer Leder-Korsage von einer Besucherin angesprochen: „Sagen Sie, tut das nicht weh?“ – „Nein“, sagt die Kundin, „es ist eines der bequemsten Kleidungsstücke, das ich habe.“