Sobald es anfängt zu regnen, wird es voll bei Phil Naisbitt. Dann kommen die Leute, um zu kaufen, was es bei James Smith & Sons in London vor allem zu kaufen gibt: Regenschirme. Doch wer glaubt, Naisbitt wünsche sich den ganzen Tag Regen, der täuscht sich. „Wir sind nicht vom schlechten Wetter abhängig“, sagt Naisbitt, der den Laden aus viktorianischen Zeiten für seinen Schwiegervater Robert Harvey führt. Die Historie macht den Charme des Eckgeschäfts im Hazelwood House in der Nähe des British Museum aus. Es ist zur Touristenattraktion geworden, in der eine längst untergegangene Epoche lebendig bleibt. Versteht sich von selbst, dass viele Touristen gewissermaßen im Vorbeigehen ein Souvenir mitnehmen, das manchmal sogar im Keller von Hand gefertigt wurde.

Under my Umbrella
Von PETER-PHILIPP SCHMITT29.11.2016 · James Smith & Sons in London ist die älteste Regenschirm-Manufaktur der Welt. Auf schlechtes Wetter allein ist das Geschäft aus viktorianischer Zeit allerdings nicht angewiesen.
Regenschirme, sollte man meinen, sind in London ein Selbstläufer. Auch wenn es den ständigen Nebel und Regen in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs nur in Büchern und Filmen wie den Edgar-Wallace-Klassikern aus den sechziger Jahren oder den Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle gibt - das Grau in Grau samt Geniesel passt einfach besser zu Jack the Ripper, Sherlock Holmes und dem Frosch mit der Maske. Im wahren London fällt weniger Regen als in Rom, Sydney oder New York, von Hamburg, München oder Frankfurt ganz zu schweigen.
„Das Wetter bei uns ist unberechenbar“, meint Phil Naisbitt. „Gerade scheint noch die Sonne, und schon regnet es wie aus heiterem Himmel. Darum geht in London auch kaum jemand ohne Schirm vor die Tür.“
© Horst A. Friedrich Überbleibsel aus viktorianischer Zeit: James Smith & Sons befindet sich seit 1857 an der New Oxford Street im West End.
Wer auf sich hält, kauft bei James Smith & Sons - und das seit 1830. Zum Kundenkreis zählten Premierminister wie William Ewart Gladstone und Andrew Bonar Law sowie Lord Curzon, einst Indiens Vizekönig Ihrer Majestät Queen Victoria. Über prominente Kunden von heute schweigt Naisbitt sich aus. Diskretion gehört zum Selbstverständnis des Hauses. Immerhin ist bekannt, dass die Königin und ihre Familie nicht bei James Smith & Sons anfertigen lassen. Elisabeth II. schätzt die Schirme des erst seit 1956 existierenden Herstellers Fulton. Unter ihrem transparenten glockenförmigen Regenschutz, Birdcage genannt, ist sie zwar gut zu sehen, allerdings hält sich das Gerücht, der Schirm sei nicht „Made in Britain“.
Wesentlich traditioneller lässt sich ihr Thronfolger mit seinen Söhnen beschirmen. Sein Hoflieferant ist die einstige Firma Thomas Brigg & Sons, 1836 gegründet. Sie bekam 1893 das erste königliche Gütesiegel von Queen Victoria, und auch Swaine, Adeney, Brigg & Sons, wie das Unternehmen nach einer Fusion heute heißt, ist Hoflieferant des Prince of Wales geblieben. Das noch ältere James Smith & Sons, angeblich die älteste noch existierende Manufaktur der Welt, hatte nie die Windsors als Kunden. „Wir galten allerdings schon immer als Manufaktur für den armen Mann“, sagt Phil Naisbitt.
Das nennt man Understatement: Auch wenn die Prinzen Charles, William und Harry zu Anzug, Krawatte und Melone einen „Brigg umbrella“ tragen und die Queen sich und ihre Hutkreationen von einem Fulton schützen lässt, so ist das Geschäft von Harvest und Naisbitt im Londoner West End wesentlich berühmter als die Unternehmen der eigentlichen „Royal Warrant Holder“. Das hat mehrere Gründe. Da ist natürlich der Laden selbst, der seit 1857, als der Sohn von James Smith von der Regent an die New Oxford Street zog, fast unverändert besteht; geändert hat sich nur der Name des Eigentümers, weil männliche Nachkommen ausblieben und die Töchter mit ihren Männern die Geschäfte übernahmen.
© Horst A. Friedrich Von Hand geformt: Die Griffe - hier aus Kirschholz - werden in der Werkstatt im Keller zurechtgeschnitten.
Das Original wissen auch Film- und Fernsehregisseure zu schätzen. Dabei trifft es sich, dass Regenschirme in Kriminal- und Spionagegeschichten oft eine Hauptrolle spielen. In einer Schlüsselszene der ersten „N or M?“-Episode der BBC-Serie „Partners in Crime“ geht es zum Beispiel um einen herrenlosen Schirm, der zu einem Spion führen könnte. Thomas Beresford (David Walliams) und seine Frau Prudence (Jessica Raine) machen sich mit ihrem Fund zum Hazelwood House auf. Natürlich hüllt dicker Nebel London ein, als Tommy und Tuppence den Laden dort betreten und versuchen, vom Verkäufer den Namen des Schirmbesitzers zu erfahren. Der ist, wie es sich gehört, verschwiegen, weiß aber anhand der Seriennummer, wem das gute Stück mit Entenkopf gehört, das er Tommy nach kurzem Gerangel entreißt. Er bestellt den Unbekannten telefonisch ins Geschäft, wo Agatha Christies Detektiv-Ehepaar schon auf ihn wartet.
„Die ganze Straße wurde für die Aufnahmen künstlich in Nebel gehüllt“, erzählt Naisbitt. „Vor den Fenstern hingen Planen, wohl um dem Laden etwas Geheimnisvolles zu geben.“ Die Dreharbeiten fanden an einem Sonntag statt, trotzdem waren natürlich alle Angestellten gekommen. Auch Naisbitt stand in einer Ecke. „Es war sehr lustig, vor allem weil es nicht einmal ein Schirm von uns war, um den die beiden stritten.“ Auch die Geschichte mit der Seriennummer war frei erfunden. Nicht einmal ein Schirm von James Smith & Sons lässt sich so einfach zu seinem Besitzer zurückverfolgen, sonst würden, wie Naisbitt sagt, nicht Dutzende ihrer Schirme bei „Lost and Found“ der Londoner U-Bahn ein vergessenes Dasein fristen. Allerdings lassen sich Spezialanfertigungen und besonders edle und kostbare Stücke natürlich schon bestimmten Personen zuordnen. Vor allem wenn ihre Besitzer wiederkommen, weil sie etwas zu reparieren haben. Dafür gibt es eigens eine dicke Kladde, die neben dem Tresen liegt, und in die seit mehr als 100 Jahren alle Reparaturarbeiten fein säuberlich und von Hand eingetragen werden.
Wer zum ersten Mal zu James Smith & Sons kommt, wird sich kaum zurechtfinden. Doch wenn es nicht allzu voll ist, es also nicht regnet und auch keine chinesische Reisegruppe kurz vorher den Laden betreten hat, ist einer von Naisbitts Mitarbeitern sofort zur Stelle. Links ist die Abteilung für Damen, da geht es farbenfroh zu. Die rechte Seite, wo noch mehr Geweihe an den Wänden hängen, ist eher für Männer reserviert. Dass es hier nicht nur um Regenschirme geht, wird schnell klar. Gehstöcke und Sitzstöcke sind genauso eine Spezialität des Hauses wie Offi-ziersstöckchen oder auch Zeremonienstäbe - an der Wand hängt ein besonders schöner Stab, der für einen nigerianischen Häuptling angefertigt wurde.
© Horst A. Friedrich Besonders farbenfroh: In der Abteilung für Damen wartet auch Gepunktetes, Gestreiftes und Kariertes.
Offiziersstöckchen, „swagger sticks“, waren im Ersten Weltkrieg Bestseller, heute werden sie kaum noch verwendet. Dafür sind Reitpeitschen sehr beliebt. Ganz rechts im Schaufenster und in einer Vitrine auf dem Tresen findet sich noch allerlei handgemachter Kleinkram: Rasierpinsel, Kämme, Schuhlöffel, Becher - allesamt aus Horn oder Knochen geschnitzt, allerdings nicht in der Werkstatt im Keller. Naisbitt lässt einiges in Heimarbeit oder in kleineren Manufakturen anfertigen, sonst könnte er nicht alle Bestellungen erfüllen.
Hinten rechts in der Ecke führt eine steile schmale Stiege nach oben auf eine enge Empore. Dort sitzen Phil Naisbitt und manchmal auch sein Schwiegervater im Verborgenen, sie selbst aber können über Spiegel an der Decke den ganzen Laden überblicken. Dabei achten sie weniger auf mögliche Diebe als auf Stammkunden, die vom Chef persönlich bedient werden wollen.
Noch versteckter arbeiten nur die Regenschirmmacher im Keller. Die Treppe hinab darf kein Kunde gehen, und auch das Fotografieren in der Werkstatt ist verboten. Das liegt allerdings weniger an geheimen Herstellungstechniken oder vertraulichen Geschäftsideen, die unbedingt im Familienbesitz bleiben sollen, sondern eher an dem wenig vorzeigbaren Kellergeschoss. Hier wird gearbeitet, und die fünf Handwerker scheinen sich in dem jahrhundertealten Gewölbe wohlzufühlen. Zwei oder drei Mal am Tag darf einer von ihnen eine Glocke läuten und damit allen zu Gehör bringen, dass wieder ein Schirm fertiggestellt ist.
Ein echter JS&S-Schirm ist ganz aus Holz, entweder aus einem Stück, oder er hat einen aufgesetzten Griff. Die Kiele oder Rippen, bis zu einem Zentimeter im Durchmesser, sind aus Stahl, die Bespannung ist aus gewebtem Polyester. Bis zu vier Wochen dauert es, bis eines dieser oft passend zum Anzug maßgeschneiderten Unikate den Keller verlässt. Zugeschnitten werden die Stöcke auf die jeweilige Größe der Person. Die preiswertesten Einzelanfertigungen beginnen bei 225 Pfund (etwa 250 Euro). Die teuersten Schirme kosten - je nach Art des Holzes - 2500 Pfund und mehr. Schlangenholz zum Beispiel ist besonders wertvoll.
© Horst A. Friedrich Zum Aufstecken: Ganz klassisch sind Perlbambusgriffe mit ihren umlaufenden Ringen.
Unsere Schirme sind eine Anschaffung fürs Leben“, sagt Phil Naisbitt. Darum rät er auch zu eher traditionellen Regenschirm-Farben: Schwarz, Grün, Braun, Blau und - für die Damen - Rot. Doch natürlich gibt es auch Gepunktetes und Gestreiftes bei James Smith & Sons und sogar Leopardenmuster. Für Kurzentschlossene, die womöglich vor der Ladentür vom Regen überrascht werden, hat Naisbitt die faltbare Massenware von Knirps, Fulton und Vaux im Sortiment (15 Pfund) sowie Schirme aus Metall (49,95 Pfund).
Auch bei einfacheren Maßanfertigungen kann man zwischen Hunderten Griffen wählen. Klassisch sind die Köpfe von Fuchs und Ente, Papagei und Spaniel. Wer es exzentrisch mag, wählt Hummer, Totenkopf, Billardkugel oder Beethoven. Wer welchen Schirm oder Gehstock auswählt, sieht nicht einmal Geschäftsführer Naisbitt vorher. Einige Konstanten aber gibt es im Regenschirm-Business: Wer sich für Holz wie Kastanie oder Esche entscheidet, weitgehend unbehandelt, und ihm einen Entenkopf aufsetzen lässt, ist vermutlich Jäger und lebt auf dem Land. Poliertes Kirsch- oder Akazienholz mit einem Totenkopf aus Silber deutet hingegen aufeinen Stadtbewohner hin.
Phil Naisbitt selbst besitzt zwei Schirme: den faltbaren nimmt er mit, wenn kein Regen angesagt ist, und den aus Kirschholz mit klassischen Perlbambusgriff, wenn es regnen soll. Ein Schirm, sagt Naisbitt, vervollständige einen Menschen. „Man läuft besser und fühlt sich auch besser.“ Gehstöcke seien auch nicht nur etwas für ältere Leute, die Schwierigkeiten mit dem Gehen haben. „Jeder sollte mindestens einen schönen Gehstock haben, der zur Persönlichkeit des Besitzers passt.“ Man muss es ja nicht gleich so übertreiben wie einst ein Amerikaner, der bei James Smith & Sons aus jedem englischen Gehölz einen Stock haben wollte - am Ende waren es mehr als 70 Stück.
© James Smith & Sons
Quelle: Frankfurter Allgemeine Magazin
Veröffentlicht: 29.11.2016 10:51 Uhr
