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Unser Jahrzehnt

Von PETER-PHILIPP SCHMITT

27. März 2023 · Farbenfrohe Holzhocker, eine Lampe als Lichtballon oder ein Esstisch, der sich auf drei Meter verlängern lässt: Unsere zehn Lieblingsstücke von deutschen Designern

2013 | Ein Hocker für jede Gelegenheit

Bunt ging es zu, auf der Möbelmesse im April 2013 in Mailand. Es war Frühling, und auch für die Möbelbranche ein Aufbruch in die Nach-Eurokrisenzeit. Der Stuttgarter Unternehmer Richard Lampert hatte drei Jahre zuvor einen Klassiker auf den Markt gebracht, den Sessel H57 von Herbert Hirche. Dieser war auf der „Interbau 1956“ in Berlin zu sehen gewesen, zu Hirches 100. Geburtstag kramte Lampert ihn nun wieder hervor. Drei Jahre später entwarf Alexander Seifried den dazu passenden Polsterhocker. Der dreilagige Little Tom ist nur 43 Zentimeter hoch, sein großer Bruder, Big Tom, als Barhocker 74 oder 82 Zentimeter. Die Tom-Familie zeichnet sich durch ihre schlichte Form aus, vier Beine, darauf eine runde Sitzfläche aus Holz oder mit Kissen. Das ist so einfach wie gut und erinnert an einen Melkschemel aus vergangenen Zeiten. Später kamen noch Tische und Poufs hinzu und der Drehhocker Mr. Round, der fürs Büro gedacht ist. Einen echten stapelbaren Hocker gibt es auch, schlicht Tom genannt, farbenfroh in Narzissengelb, Eisgrün und Hellrosa.

Foto: Richard Lampert

2014 | Ein Ballon gefüllt mit Licht

Foto: Pulpo
Mit Glas kennt er sich wie kein zweiter aus. Sein Tisch Bell ist nachgerade ein Klassiker: der Fuß aus mundgeblasenem Glas, darauf eine Metallplatte, die über dem Ganzen zu schweben scheint. Den Prototypen stellte Sebastian Herkner auf der Nachwuchsschau für junge Designtalente in Mailand, dem Salone Satellite, 2009 aus, 2012 nahm ihn die Münchner Marke Classicon ins Programm. Der Beisteller in verschiedenen Größen wurde fast sofort zum Bestseller. Nicht minder erfolgreich ist die Leuchte Oda, die der 1981 in Bad Mergentheim geborene Herkner 2014 erstmals präsentierte. Dem Designer mit Studio in Offenbach schwebte ein Ballon voll mit Licht vor. Inspiration waren aber auch die Fotos von Wassertürmen des deutschen Fotografenehepaars Hilla und Bernd Becher. Beeindruckend ist allein die schiere Größe der ebenfalls mundgeblasenen Ballone, die auf einem schlichten Stahlgestell ruhen. Über die Jahre hat Herkner die Kollektion für Pulpo stetig vergrößert: Oda gibt es in vier Größen (45, 85, 120 und 140 Zentimeter hoch) und in sieben verschiedenen Farben.

2015 | Eine Platte, die es in sich lang macht

Schon in jungen Jahren half Jacob Strobel seinem Onkel in dessen Tischlerei. Später studierte er Holz- gestaltung an der Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg (Erzgebirge). Heute ist der gebürtige Würzburger, Jahrgang 1978, dort Professor und leitet den Schwerpunkt Möbel- und Produktdesign. Sein liebstes Material: Holz. Wie sehr er dem Naturstoff verbunden ist, bewies er als Designchef der oberösterreichischen Marke Team7. Dort entwickelte er auch den Tisch Tak, der sich aufs Wesentliche beschränkt. Seine Naturholzplatte, die nur 16 Millimeter dick ist, lässt sich auf eine Länge von drei Metern ausziehen. Und das mit drei intuitiven Handgriffen – tak, tak, tak. Das Schöne: Jeder Tisch ist ein Unikat, denn jedes Stück Holz ist anders, und das nicht nur, weil es so viele Arten gibt, von Buche und Eiche über Erle zu Kirsch- und Nussbaum.

Foto: Team 7

2016 | Eine Kommode der tausend Möglichkeiten

Der Berliner Werner Aisslinger hat schon einige Sideboards für die Möbelmarke Interlübke entworfen, da verliert man leicht den Überblick. Auch weil der Name Cube immer wieder eine Rolle spielt. Diese Kommode hat eine charakteristische Schattenfuge, die dem Programm auch ihren Namen gibt: Cube Gap – das englische Wort „gap“ bedeutet Fuge, Abstand, Spalt. Das Schöne daran: Sie dient auch als Griffleiste. Der Entwurf von Aisslinger, Jahrgang 1964, kann frei im Raum oder an der Wand stehen, und er kann auch an einer Wand hängen. Da er aus einzelnen Modulen (Cubes) besteht, ist es ein Möbel der 1000 Möglichkeiten, das sich auswachsen und zum Beispiel eine Abdeckplatte aus Holz und Stein oder sogar mit Polstern haben kann, damit man auf dem Unterbau aus Metall wie auf einer Bank sitzen kann.

Foto: Interlübke

2017 | Ein Sessel mit viel Schwung

Foto: Freifrau
Die Marke Freifrau ist nur unwesentlich älter als dieses Magazin – um genau zu sein: ein Jahr. Hansjörg Helweg gründete seine Firma 2012, inzwischen haben seine Söhne, die Zwillinge Marc und Niklas Helweg, das Ruder weitgehend übernommen. Von Anfang an dabei war das Hamburger Duo Hoffmann Kahleyss Design, also Birgit Hoffmann, die zugleich Art-Direktorin von Freifrau ist, und Christoph Kahleyss. Klar, dass die beiden auch eine Reihe von Produkten für das Unternehmen mit Sitz in Lemgo entwickelt haben, darunter die Stuhlfamilie Leya. Wer einmal in dem dick gepolsterten Leya Lounge Chair gesessen hat, mag gar nicht mehr aufstehen. Ihn gibt es mit Beinen und auf Kufen, mit Fußkreuz, Rollen und zum Schaukeln, aber auch in dieser beschwingten Variante. Für den Leya Swing Seat reicht schon eine Raumhöhe von 2,20 Metern, mehr ist natürlich noch besser. Und weil's schon drinnen so schön ist, haben Hoffmann und Kahleyss ihr Programm auch noch ins Freie erweitert, mit der Outdoor-Familie Leyasol. Mehr Sitzvergnügen geht eigentlich nicht.

2018 | Ein Werkstoff, der nicht rostet

Foto: Echtstahl
Stahl ist ein Material mit vielen Vorzügen: Es lässt sich beinahe beliebig formen, es rostet nicht, und man kann es wieder einschmelzen. Die Nützlichkeit des Werkstoffs brachte David Piel dazu, sich vor neun Jahren mit seinem Unternehmen Echtstahl in Swisttal unweit von Bonn selbständig zu machen. Schnell knüpfte er Kontakte zu jungen Designern, unter ihnen auch Mark Braun aus Berlin. Der gelernte Tischler, Jahrgang 1975, hatte schon länger die Idee für einen Stuhl im Kopf, seit er auf einer Reise durch Syrien 2010 „markante Stuhl- und Hocker-Eigenkonstruktionen“ gesehen hatte. So entstand die aus gebogenen Rohren und gefalteten Blechen bestehende Sitzmöbelserie Hama. Stuhl wie Sessel, Barhocker und Bank sind stapelbar und in mehreren, auch knalligen Farben zu haben. Besonders bequem: Jedes Produkt lässt sich leicht transportieren, denn Mark Braun, der seit 2006 sein eigenes Studio in Berlin führt, hat an den Seiten der Sitze und der Rückenlehne praktische „Handgriffe“ angebracht.

2019 | Ein Strahler als ständiger Begleiter

Foto: Tobias Grau
Es waren zwei anstrengende Wochen für Timon und Melchior Grau: Als wandelnde Porträts gingen sie 2016 in einer Athener Galerie auf und ab, ein Kunstprojekt der jungen Künstler. Am Ende entstand eine Idee: eine Leuchte zum Tragen. Praktischerweise hatten die Eltern eine nach dem Vater benannte Leuchtenmarke, Tobias Grau. Seit 2022 führen die Söhne sie unter dem Namen GRAU weiter. Ihre Leuchte Parrot ist dem menschlichen Körper nachempfunden, hat einen runden Kopf und einen langen schmalen Körper. Die Aluminiumstange ist höhenverstellbar, der Kopf lässt sich um 30 Grad neigen und um 310 Grad drehen, das Licht dimmen. Je nach Höhe, Position und Lichtintensität verändert sich der Raum, in dem sie bewegt wird. Wichtig waren ihren Entwerfern auch die Farben, „die an Assoziationen mit natürlichem Licht anknüpfen“: Es gibt sie in Blau wie das Licht am Morgen, in Orange wie das Licht bei Sonnenuntergang, in Weiß (für den lichten Tag) und in Schwarz (die dunkle Nacht).

2020 | Ein Licht mit Spannungsbogen 

Die Marke Midgard ist schon 104 Jahre alt, ihre Neugründung aber erst neun. 2015 erwarben David Einsiedler und Joke Rasch die Rechte an dem 1919 in Auma (Thüringen) von Curt Fischer gegründeten und für lenkbares Licht bekannten Unternehmen, das 1971 in der DDR enteignet worden war. Zunächst legten sie einige alte Produkte wieder auf, konnten dann aber den Münchner Designer Stefan Diez dafür gewinnen, den ersten Entwurf einer neuen Midgard-Leuchte seit den Fünfzigerjahren zu entwickeln. Diez ging radikal an den Auftrag heran: Er nahm einen Fiberglasstab, den er mithilfe des Leuchtenkabels zu einem Bogen spannte. Der Kopf seiner Ayno wird durch das Verschieben zweier Feststellringe in die gewünschte Position gebracht. Der Schirm ist schwenk-, das Licht dadurch lenkbar. Inzwischen gibt es mehrere Versionen, für Tisch, Boden, Wand. Ausgestreckt ist die Ayno im XL-Format nahezu fünf Meter hoch. Da sie nur aus drei Werkstoffen besteht, die wiederverwertet werden können (und für die Leuchte schon wurden), und alle Teile, wenn sie denn kaputt gehen, austauschbar sind, überzeugt der Entwurf auch durch seine Nachhaltigkeit.

Foto: Midgard

2021 | Ein Pony fürs Homeoffice

Foto: Gumpo
Corona hinterlässt seine Spuren, auch die Möbelbranche war von der Pandemie massiv betroffen. Die Umsätze stiegen, denn plötzlich blieben viele Arbeitnehmer zu Hause – und wollten sich dort, im Homeoffice, auch wohlfühlen. Zugleich setzte sich der Trend zu kleinen, platzsparenden und mobilen Arbeitsplätzen fort. Bestes Beispiel: die Sitz-Tisch-Kombination Pony vom Münchner Duo Relvão Kellermann. Ana Relvão, Jahrgang 1986, ist gebürtige Portugiesin, Gerhardt Kellermann wurde 1983 in Rumänien geboren. Ihr rollendes Pony wiegt nur 18,5 Kilogramm, die exzentrische Tischplatte ist drehbar und passt sich dem Sitzenden in Abstand und Position an. Sie ist groß genug für einen Laptop, doch kann man auch gut an ihr eine Mittagspause einlegen. Die Marke Gumpo bietet Pony in sechs Farben an: Buttercrème-Gelb, Casinogrün, Indigoblau, Graphitschwarz, Dunkelrot, Hellgrau.

2022 | Eine Hommage aus dem Chiemgau

Hier kommt Kurt. Der kleine Sekretär, der ohne Schrauben auskommt, ist als Hommage an Kurt Weidemann zu verstehen. Der berühmte deutsche Grafikdesigner und Hochschullehrer wäre am 15. Dezember 100 Jahre alt geworden. Kurt ist schnell erklärt: Beine durch die Platte stecken, Riegel durch die Beine schieben, Kurt aufstellen. Das ist so simpel wie genial und ist ein weiteres Beispiel dafür, was für ein grandioser Designer Nils Holger Moormann ist. Der hat sich zwar vor zweieinhalb Jahren von seinem nach ihm benannten Aschauer Unternehmen verabschiedet, doch der (im positivsten Sinne) Querdenker der deutschen Designszene, gerade erst 70 Jahre alt geworden (nachträglich alles Gute!), denkt natürlich nicht ans Aufhören. Zum Glück, wie man an diesem nachhaltig in Handwerksbetrieben im Chiemgau hergestellten Sekretär sehen kann.


Zehn Jahre F.A.Z.-Magazin So fliegt die Mode auf die Seiten
Modelabel Gauchere Zehn Jahre mit links

Quelle: F.A.Z.-Magazin

Veröffentlicht: 27.03.2023 11:30 Uhr