Mode macht Kunst
Von ANKE SCHIPP, JULIA VON DER HEIDE (Fotos) und MARKUS EBNER (Styling)21.09.2022 · Vor 100 Jahren wurde Akris gegründet. Albert Kriemler arbeitet auch mit Künstlern daran, dass die Luxusmarke aus St. Gallen auf der Höhe der Zeit bleibt.
Die erste „Woman with Purpose“ war ein Bauernkind aus einem kleinen Dorf bei St. Gallen. Als sie 1896 geboren wurde, hätte niemand gedacht, dass Alice Kriemler-Schoch einmal das Leben einer erfolgreichen Frau führen würde. Als achtes von elf Kindern ohne Bildungschancen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgewachsen, brachte sie es mit bemerkenswerter Willenskraft von der einfachen Näherin zur Unternehmerin. Im Jahr 1922 ließ sie ihre Schürzenmanufaktur in das St. Gallener Handelsregister eintragen. Weil es ihr zu mühsam war, auf jede fertige Schürze ihren langen Namen zu sticken, kürzte sie ihn mit ihren Initialen ab und nannte ihre Firma Akris.
Es ist ein heißer Tag in St. Gallen. Die Stiftskirche ragt über der Altstadt in den azurblauen Himmel. Nicht weit davon, zwischen Kapellengasse und Felsenstraße, befindet sich das Modehaus Akris, ein Konglomerat aus vielen kleinen Gebäuden, zu dem auch das Haus gehört, in das 1939 Alice Kriemler-Schoch mit ihrem Mann, einem Handelsvertreter, zog, als ihre Näherei mehr Platz brauchte. Der kleine Blumengarten an der Straße, den sie seinerzeit angelegt hatte, wird bis heute gehegt und gepflegt.
Wenn Albert Kriemler von seiner Großmutter erzählt, lächelt er. Kriemler sitzt in seinem Atelier im dritten Stock an der Felsenstraße. Durch die Dachfenster sieht man in der Ferne die Berge. Überall stehen Kleiderständer, an der Wand hängen die Zeichnungen für die nächste Kollektion. Eine Assistentin legt diskret Stifte, Notizzettel und ein Maßband auf den weißen Tisch in der Mitte. Seine Großmutter, das Bauernkind, ist für Kriemler das Sinnbild für die klassische Akris-Kundin, die er „Women with Purpose“ nennt: Frauen mit einem Ziel. Die meisten von ihnen berufstätig, einige auch prominent wie Fürstin Charlène von Monaco, Schauspielerin Angelina Jolie oder die frühere amerikanische First Lady Michelle Obama. „Dass meine Großmutter jemand war, der überzeugt von dem war, was sie macht, hat ihre Körperhaltung gezeigt“, sagt Kriemler. Mit 60 Jahren lernte sie noch Englisch, mit 62 machte sie den Führerschein, und sie war Mitglied im ersten örtlichen Club für Geschäftsfrauen. Auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto hat die Firmenchefin ihre Schultern nach hinten gereckt und schaut klar und forsch in die Kamera. Ihre Stärke erlebte Kriemler schon als Junge, als er zeitweise bei ihr lebte. Wenn seine Großmutter morgens mit der Arbeit begann und sich mit einem festen Griff die Schürze umband, war das ein Signal: Ich bin bereit für den Tag!
Diese Klarheit, dieser Willen und dieses Arbeitsethos sind Teil des Erfolgs von Akris. Das Familienunternehmen hat in den 100 Jahren seit der Gründung nicht nur expandiert, sondern sich auch vom Schürzenproduzenten zu einer international erfolgreichen Luxusmarke entwickelt. Heute sind es Männer, die Akris führen, mit ähnlicher Willenskraft. Albert Kriemler als Kreativdirektor und sein Bruder Peter als Geschäftsführer haben das Unternehmen in den Achtzigerjahren von ihrem Vater Max übernommen, der zur rechten Zeit den Betrieb von Schürzen auf Konfektionsmode umgestellt hatte.
Doch die Branche hat sich verändert. Im Haifischbecken der Mode dominieren Marken, die zu börsennotierten Luxuskonzernen gehören und über großes Kapital verfügen. Prada zum Beispiel, früher ein Familienunternehmen, heute eine Holding im Besitz der Familie, hat auf der Welt 635 Läden unter eigener Regie, mit 7200 Mitarbeitern. Akris hat 300 Verkaufsstellen, einschließlich eigener Stores, und 500 Mitarbeiter. Anders als die börsennotierten Unternehmen lebt Akris von der Mode und nicht von den Accessoires und Parfums – mit denen andere Marken auch den Massenmarkt erreichen. „Wir stehen nahezu alleine da heute“, sagt Kriemler. Noch bis vor Kurzem gab es unabhängige Marken wie Dries Van Noten, Lanvin und Missoni. „Die waren alle ähnlich groß wie wir. Und alle drei sind mittlerweile zu Anteilen oder ganz an Investoren verkauft worden.“ Für ihn muss es sich anfühlen, als hätte er alte Weggefährten verloren.
Vielleicht wäre Albert Kriemler, wenn es das Familienunternehmen nicht gegeben hätte, Architekt geworden, oder er hätte Kunstgeschichte studiert. Aber es gab da noch eine Leidenschaft, das Sinnliche, das mit dem Intellekt nichts zu tun hat. Im Gespräch sagt er, die Beschaffenheit von Stoffen sei eigentlich nur Physik. Schon als Junge beschäftigte er sich mit verschiedenen Aggregatzuständen, als er stundenlang im Stofflager der Firma verschwand, mit der kühlen Haptik von Seide, dem Knistern eines Krepp-Stoffes, der Softness von Kaschmir. Er war noch nicht erwachsen, da diskutierte Kriemler mit Stofflieferanten über die unterschiedlichen Qualitäten von Doubleface, dem Stoff, der seinen Jacken und Mänteln ihre Leichtigkeit verleiht, weil er das Futter überflüssig macht. Später begleitete er seine Eltern auf Reisen nach Paris, wo sie Stoffmessen oder Couturiers wie Hubert de Givenchy besuchten, für den Akris einige Jahre lang Prêt-à-porter-Kollektionen herstellte. Noch heute nimmt Kriemler auf längeren Flügen, wenn er über die nächste Kollektion nachdenkt, dicke Stoffmappen mit. Es geht ihm darum, das Material zu erforschen, neue Techniken zu entwickeln und den optimalen Stoff zu finden.
Kriemler entspricht nicht dem Klischee eines Modemachers, er ist nicht extrovertiert, sucht nicht das Rampenlicht. Er spricht mit leiser Stimme, ist zurückhaltend und formuliert so gründlich, wie er nachdenkt. Jeder Schritt, den das Unternehmen macht, ob vor oder zurück, ist wohlüberlegt. Schon früh wusste Kriemler, dass er die Akris-Mode in Paris zeigen will. Er erzählt gerne die Geschichte, wie er sich in den Neunzigerjahren das erste Mal bei der Chambre Syndicale du Prêt-à-Porter des Couturiers et des Créateurs de Mode bewarb. „Quoi? Akris? Je connais pas“, sagte der damalige Präsident und lehnte es ab, sich mit der Bewerbung des kleinen Schweizer Unternehmens zu beschäftigen.
Kriemler ließ nicht locker und bewarb sich ein paar Jahre später wieder, als Didier Grumbach neuer Präsident der Modekammer wurde. Man war sich sofort sympathisch. Doch es dauerte weitere fünf Jahre, bis ein Termin im Schauenkalender frei war, der sich aus Sicht Kriemlers auch lohnte. Die erste Schau war gleich ein Erfolg. Einkäufer und Journalisten waren begeistert von dem zurückhaltenden Luxus, den im Jahr zuvor schon die Amerikaner entdeckt hatten, als der mächtige Chef-Einkäufer des Luxuskaufhauses Bergdorf Goodman, Robert Burke, Akris in den Schaufenstern ausstellte. Die Schweizer setzten wie kaum eine andere europäische Marke in den USA zum Siegeszug an.
Viele der gut betuchten Kundinnen aus Amerika kaufen Akris-Modelle nicht nur, um beim nächsten Dinner gut auszusehen oder beim Vorstandsmeeting perfekt gekleidet zu sein. Akris-Modelle sind auch Sammlerstücke, die in den begehbaren Kleiderschränken Jahrzehnte überdauern sollen und wie eine gute Flasche Wein immer wieder rausgeholt werden. Dass seine Modelle Collectibles sind, liegt auch an einer nahezu genialen Idee, die Kriemler hatte, kurz nachdem er seine Mode das erste Mal in Paris gezeigt hatte. „Ich wusste, dass wir eine Message haben müssen“, sagt er heute. „Nur tragbare Kleider über den Laufsteg zu schicken, das reicht nicht.“
Was aber verleiht einem Kleidungsstück Tiefe? Kriemler erinnert sich an jenen Tag in Winterthur, als er im Kunstmuseum Fotos des italienischen Künstlers Giorgio Morandi sah und von den pastellfarbenen Stillleben fasziniert war, über denen ein eigenartiger Dunst lag. Damals kam ihm die Idee, zu versuchen, diesen Dunst in Stoff zu übertragen. Und das gelang ihm 2004, indem er Chiffon, Krepp und Organza in mehreren Schichten übereinander legte.
Heute ist die Zusammenarbeit mit Künstlern zu einem Markenzeichen von Akris geworden. Auch deshalb, weil Kriemler es ernst meint mit den Kooperationen. Seit Yves Saint Laurents Mondrian-Kleidern ist Kunst ein beliebtes Mittel in der Mode, um Aufmerksamkeit zu erregen und sich vom Massenmarkt abzusetzen. Bei vielen Marken ist es eine Art besseres Marketing. Für Kriemler geht es um mehr als nur um Aufmerksamkeit. Er lässt sich nicht nur von Künstlern inspirieren, seit 2005 arbeitet er auch regelmäßig mit ihnen zusammen. Sie sind für ihn eine Art Katalysator, um in seiner Mode weiterzukommen.
„Jede Interaktion mit einem Künstler löst bei mir etwas anderes aus und führt zu ganz unterschiedlichen Kreationen“, sagt er. Und wenn er davon redet, wie er ein bestimmtes Bild oder Foto in einen Stoff verwandelt, welche digitale Technik er nutzt oder wie kompliziert es war, eine Treppe des Gartenkünstlers Ian Hamilton Finlay im Faltenwurf eines Kleides nachzuempfinden, könnte man ihn für einen Wissenschaftler halten, der nach der richtigen Formel sucht.
Zwei Dinge erleichtern Kriemler die Arbeit mit Künstlern. Einerseits kann er sein Ego so weit hintanstellen, dass er dem Künstler zumindest einen Teil der Bühne überlässt. Andererseits hat er das Selbstbewusstsein, sich als Designer nicht minderwertig gegenüber dem Künstler zu fühlen. Er weiß sich einzuordnen: „Der Unterschied zwischen dem Künstler und dem Designer ist, dass wir etwas machen, was einen Zweck erfüllen soll. Das heißt nicht, dass wir weniger kreativ sind.“
Die Grundvoraussetzung: Der Künstler muss es zulassen können, dass sich eine neue Version seiner Kunst in den textilen Werken Kriemlers wiederfindet. Viel hängt auch davon ab, ob die Chemie stimmt. „Menschliche Beziehungen spielen immer eine Rolle. Fashion is about people, davon bin ich überzeugt.“ Da kommt ein weiteres Talent Kriemlers ins Spiel: Er kann sich auf Menschen einlassen, ihnen zuhören und in seiner freundlichen Art so lange mit ihnen diskutieren, bis das Ergebnis für beide Seiten zufriedenstellend ist. Das macht er jeden Tag mit seinem Team. Und das macht er auch mit den Künstlern. „Meine Zusammenarbeit mit Thomas Ruff war sehr intensiv, wir haben uns jeden Monat gesehen“, erzählt er. Die beiden waren schon länger befreundet. „Wir feierten mit einem Defilee unsere zehn Jahre bei der Paris Fashion Week, und das schien der perfekte Zeitpunkt zu sein, meinen Fotodrucken eine neue Ausstrahlung zu geben.“
Mit Skizzen und Stoffen fuhr er einmal im Monat nach Düsseldorf, um mit dem Fotokünstler die Entwürfe zu besprechen. Sie wurden ein eingeschworenes Team. Für die Herbst-Winter-Kollektion 2014 perfektionierte er gemeinsam mit Ruff die Fotoprints und schuf spektakuläre Kleider und Mäntel, die komplett mit Ruffs leicht verwischten Fotos bedruckt waren.
Manchmal kommt eine Zusammenarbeit zufällig zustande. Wie 2016, als er im neu eröffneten Whitney Museum of American Art in New York vor einem weißen Diptychon mit einem grünen Dreieck stand, im Stil der abstrakten Geometrie. Zwei markante weiße Flächen nebeneinander mit einem grünen pfeilförmigen Dreieck. Das Bild von Carmen Herrera aus der Serie "Blanco y Verde" faszinierte ihn, denn es stammte von 1959. „Das muss man sich vorstellen“, schwärmt er noch heute, „grün und weiß als Farben in den Fünfzigerjahren, als alle das Doris-Day-Pastell liebten.“ Kriemler kannte die Künstlerin nicht, er fragte den befreundeten Direktor des Whitney-Museums, Adam Weinberg, und erfuhr, dass die gebürtige Kubanerin 101 Jahre alt sei und in New York lebe. Kriemler ließ sich die Telefonnummer geben, rief sie an und stand zwei Tage später in ihrem Loft in der Nähe des Union Square. „Wir waren uns auf Anhieb sympathisch“, erzählt er heute über die Begegnung mit der alten Dame, die mit 89 Jahren ihr erstes Bild verkauft hatte und erst dann als Pionierin der abstrakten Geometrie in Ausstellungen gefeiert wurde. Er nennt es heute „eine der spannendsten Erfahrungen als Modedesigner“, die strenge Linearität von Herreras Kunst in Kleider umgewandelt zu haben. Kriemler, der Menschenfreund, blieb bis zu ihrem Tod im vergangenen Februar in Kontakt mit Herrera und schickte ihr jedes Jahr Blumen zum Geburtstag.
Die jüngste künstlerische Zusammenarbeit für die Herbst/Winter-Kollektion 2022 war wieder ein Glücksfall. Zufällig stieß er auf eine alte Korrespondenz mit einer Kuratorin, die ihm von einer Ausstellung in Zürich mit einem Künstler erzählt hatte. Kriemler kannte ihn nicht und recherchierte: Reinhard Voigt, Jahrgang 1940, lebte lange in New York und seit einigen Jahren wieder in Berlin. „Ich war sofort begeistert von den pixelartigen Ölbildern, seiner Präzision zu malen und dem unglaublichen Farbsinn.“ Voigt, der seit den Sechzigerjahren diese Raster-Kunst machte und sich früh mit Computerspielen auseinandersetzte, war sofort zur Zusammenarbeit bereit. Also trafen sich die beiden regelmäßig auf der Achse Berlin-St. Gallen.
Die Arbeit mit den Künstlern lebt vom Austausch, so wie die tägliche Arbeit mit seinem Designteam. Schon bei einem einfachen Ärmel gibt es zahllose Diskussionen. Das seien wichtige Prozesse, sagt Kriemler. Wie sehen die Nähte aus? Gesteppt oder nicht gesteppt? Polster an den Schultern oder nicht? „Es ist wichtig, dass Evolution stattfindet, ansonsten findet die Überraschung nicht statt, die heute so wichtig ist.“ Mitunter kostet das Kraft. Aber auch aus Rückschritten lernt er. „Ich bin ja der Meinung: Wenn alles gut geht, ist es gefährlich. Die schwierigsten Momente sind die, wenn es einfach rollt, dann wird man oberflächlich und schaut nicht mehr so genau hin, dann passieren Fehler.“
Sein Team ist ihm wichtig. Es gibt Mitarbeiterinnen, die seit mehr als 30 Jahren dabei sind. „Akris ist Akris, weil das hier im Haus entsteht. Die Menschen, die das mit mir umsetzen, sind das Fundament des Hauses“, sagt er ernst. „Ich habe Mühe mit der oft in der Mode gelebten Egomanie. Jeder Designer ist nur so gut wie sein Studio.“
Für seine nächste Kollektion, die er im Oktober nach zweijähriger Corona-Pause wieder in Paris präsentieren wird, als Hommage an 100 Jahre Akris, ist er ins Archiv gegangen und hat sich seine ersten Entwürfe aus den Achtziger- und Neunzigerjahren angeschaut. In dieser Kollektion ist er sozusagen seine eigene Inspirationsquelle. Es geht um alte Muster und alte Stoffe, aber auch darum, wie man sie so verändert, dass sie am Ende modern wirken. Kriemler ist ein Suchender, der die Dinge immer weitertreibt. Was er auch tun kann, weil sein Bruder Peter, der das Geschäftliche betreut, ihm freie Hand lässt.
Er verschweigt nicht, dass ein kalter Wind in der Branche weht. „Das Leben ist nicht einfach als kleines, unabhängiges Unternehmen unter den Großen.“ Als Beispiel nennt er die Suche nach neuen Verkaufsorten. „Wenn wir uns in China um ein Geschäft in einer Mall bemühen, sind wir froh, wenn wir irgendwo im zweiten Stock einen Platz bekommen.“ Die besten Plätze bekommen die Global Player wie Chanel, Hermès, Prada oder Louis Vuitton. „Aber“, setzt er nach: „Zum Glück gibt es dann auch immer wieder Vermieter, die uns gut finden.“ Und die Akris doch einen Platz in der ersten Reihe gewähren.
Anders exklusiv zu sein, nicht austauschbar, aus der Schweiz zu kommen, für Qualität zu stehen: Das macht Akris in der Modewelt zu etwas Besonderem. Wer Akris kauft, kauft keinen Firlefanz. Das liegt auch daran, dass das beschauliche St. Gallen, 738 Kilometer von Paris entfernt, dafür sorgt, dass man nicht abhebt. Arroganz und Träumereien haben hier keinen Platz. Bei aller Kreativität wird hier auch gerechnet. Wer aus der vierten Generation irgendwann übernehmen wird, vielleicht eines der Kinder von Peter Kriemler – das ist noch nicht klar. Einstweilen wird Albert Kriemler jeden Tag so tatkräftig beginnen wie seine Großmutter.
Fotos: Julia von der Heide
Styling: Markus Ebner
Model: Adrienne Jüliger
Dank an die Kunstakademie Düsseldorf
Quelle: F.A.Z. Magazin
Veröffentlicht: 21.09.2022 15:01 Uhr
