Hermès-Chefdesignerin : Die moralische Dimension des Stils
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Als Chefdesignerin für Hermès entwirft Nadège Vanhée-Cybulski Kleidung für eine Frau, die stark und sinnlich sein kann. Im Interview spricht sie über ihre Vision von Schönheit, den Weg vom Kind zur Frau – und warum Männer nicht erklären müssen, was sie sind.
Auf den ersten Blick sieht die Französin Nadège Vanhée-Cybulski fast unauffällig aus: Sie trägt ihr rotblondes, schulterlanges Haar ohne sichtliches Styling, kein Make-up und nur einen Hauch rosenholzfarbenen Lippenstifts sowie ein navyfarbenes Oberteil, das wahlweise minimalistisch oder gewöhnlich sein könnte. Richtig beurteilen lässt sich das nicht, wegen des Lockdowns in Paris findet das Interview per Videokonferenz statt. In der Mode gilt die aktuelle Chefdesignerin des Traditionshauses Hermès jedoch ganz und gar nicht als unspektakulär: Ihr Name steht für modernes, unaufgeregtes, aber sehr raffiniertes Design, das sich nicht mit Geschlechterklischees aufhält. Sie schneidert Hosen, so anmutig wie Kleider, zeigt Haut, ohne zu entblößen, treibt Materialqualitäten so auf die Spitze, dass eine Seide unzerstörbar wirkt und ein Leder hauchzart.
Gelernt hat sie ihr Handwerk bei Martin Margiela, verfeinert bei dem New Yorker Label The Row und, zusammen mit Phoebe Philo, bei Céline. 2014 ersetzte sie Christophe Lemaire und verantwortet seither die Frauenmode des französischen Traditionshauses Hermès. Privat und beruflich steckt sie wieder mitten im Übergang: Im Spätsommer 2019 wurde sie zum ersten Mal Mutter. Und bei Hermès ist sie damit beschäftigt, die Frau nach ihren Vorstellungen neu zu entwerfen.
Frau Vanhée-Cybulski, was halten Sie davon, wenn Influencer, die einfach nur stets nach den neuesten Trends gekleidet sind, heute als Stil-Ikonen bezeichnet werden?
Guter Stil macht nicht einfach nur Freude. Um ihn herzustellen, braucht man eine starke Vision von Schönheit. Als Gestalterin kombiniert er für mich außerdem gutes Design und hohe Funktionalität. Und er verkörpert Werte: wie man mit seinen Mitmenschen umgeht, wie man seine Umwelt wahrnimmt und wertschätzt. Es ist ein vielschichtiger Begriff.
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Weitere InformationenGuter Stil hat eine moralische Dimension?
Für mich liegt das auf der Hand. Ich wollte stets ein Gleichgewicht zwischen meinen Träumen, meinen persönlichen und fortschrittlichen Werten, die dafür sorgen, dass sich unser Leben verbessert. Ich sehe das Bauhaus als gutes Beispiel für eine Schule, die Zweckmäßigkeit und Schönheit verbindet. Was mir bei Hermès ein Gefühl der Zuversicht gibt, ist die starke Unternehmenskultur: Es gibt Geschlechtergerechtigkeit, und die Mitarbeiter ziehen Befriedigung aus ihrer Arbeit.
Beeinflusst das Thema Nachhaltigkeit Ihren Alltag bei Hermès?
Konkret im Kleinen, wenn es beispielsweise darum geht, wie wir weniger Verpackungsmüll produzieren, weniger Verschnitt, und überlegen, ob wir wirklich so viele Prototypen unserer Designs herstellen müssen. Wer bei Hermès kauft, erhält eine lebenslange Garantie: Geht es kaputt, kann man es reparieren lassen.
Macht es einen Unterschied, ob Sie persönlich oder als Designerin der Marke Hermès über Ihre Vorstellung von Stil sprechen?
Für mich persönlich ist die Entwicklung von Stil ein Mittel, um Übergänge zu gestalten: vom Kind zur Jugendlichen, von der Jugendlichen zur jungen Frau. Als Mädchen fand ich die New Romantics faszinierend, dann Morrissey und Garage Bands. Zwischen 18 und 20 stieß ich auf die Arbeiten der Designer Helmut Lang und Junya Watanabe. Das war für mich der Inbegriff von gutem Stil, Mode mit einer starken Wirkung: unverfälscht und mutig, nicht einfach nur Kleidung, sondern funktional und mit einem eigenen Look.
Haben Sie Ihren Ikonen nachgeeifert, oder waren das eher abstrakte Ideen?