Reparieren statt wegschmeißen : Der Schirmdoktor
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Der Herr der Schirme inmitten von mehr oder weniger geschmackvollen Exemplaren. Vergessene und ausrangierte Schirme nimmt Baumann auseinander, um Ersatzteile zu haben. Bild: Sabina Paries
Erich Baumann ist der letzte Schirmflicker der Schweiz. Über eine seltene bis seltsame Kunst.
Ein wirklich durchdachter Regenschirm, wie ihn Erich Baumann an diesem Tag auf der Werkbank hat, trägt das Motiv von einem mit weißen Wölkchen durchsetzten blauen Himmel selbstverständlich nicht oben, auf dem Dach. Sondern als Dekor auf der Innenseite. Der Schirmhimmel leuchte dem Besitzer, nicht der Außenwelt!
Man muss weit fahren, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Aus Neugier und aus der Not heraus ist der Autor drei Autostunden südwärts in die Schweiz gerollt, bis knapp vor Bern, um den, wie es auf Schwyzerdütsch heißt, letzten Schirmflicker zu besuchen. Erich Baumann, 55 Jahre, hat sich in einem einstigen Schulhaus eingemietet. Zehn Tonnen Metall lagern in Kisten, Schränken, Schubladen, auf Regalböden, geordnet in einer Systematik, die nur er kennt. Rundum Fenster und Licht. Wenn er allein ist und in die Arbeit vertieft, dröhnt aus den Boxen Musik von Pink Floyd.
Er mag nicht übers Wetter reden
Üblicherweise befasst man sich nicht mit Schirmen. Ein Schirm ist ein Schirm, fliegt in die Ecke, liegt, steht die meiste Zeit über daheim wohlverwahrt im Schrank, harrt griffbereit und zugleich achtlos aus im Kofferraum und ist lästig, wenn man ihn mal dabei hat und es trocken bleibt. Dass es übers Jahr gesehen mehr regne, als es trocken sei, war lange eine gefühlte Gewissheit, die sich während allzu langer Trockenzyklen gerade aufzulösen beginnt. Noch aber kommt beispielsweise Frankfurt am Main auf durchschnittlich 173 Regentage.
Erich Baumann mag nicht übers Wetter reden. Mittlerweile ist er Journalisten gewöhnt. Jeder, der zum Interview anreist, bringt eine Dosis Poesie mit. Schirme reparieren sei wie Free Jazz, weil Improvisationskunst. Oder: Ein kaputter Schirm sehe so elend aus wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel.
Tatsächlich interessiert sich Baumann für das Handwerk. Für Griff, Schieber, Schirmstock und Schirmkrone. Für die acht fragilen Speichen, im Schwyzerdütsch Stängli geheißen; für die acht Spitzli, die an jedem Stängli den Bezug einfassen.
Man begreift erst, was Baumann leistet, wenn man versteht, dass in der Systematik eines munteren Konsum- und Wegwerfautomatismus eine Reparatur gar nicht vorgesehen ist. Es mithin keinerlei Ersatzteile gibt. Baumann ist darum ständig auf der Suche danach. Weil es massenhaft Schirme gibt, hat er ein umfangreiches Lager angelegt. Verlorene, vergessene, in der Bahn liegen gelassene Findlinge, nach denen niemand sucht, gelangen über Sammelstellen in Geschäften und Kaufhäusern, die einen Reparaturservice anbieten, in sein Depot.
Der Handwerker ist in seiner Heimat ein Medienstar
Das Erstaunliche: Das Geschäft läuft. Baumann war Gast in einer Schweizer Talkshow. Die großen Populärmagazine und auch der Südwestrundfunk aus Stuttgart haben über ihn berichtet. Anfang des Jahres porträtierte ihn ein Schweizer Kundenmagazin, Auflage: 2,1 Millionen Exemplare, Überschrift: „Er lässt niemanden im Regen stehen.“ Seither klingelt der Postmann täglich und bringt bis zu zehn Schirme.
Baumann profitiert von der Welle der Nachhaltigkeit: Die Kunden wollen ein Zeichen setzen und bringen jetzt auch den Billigschirm aus dem Drogeriemarkt zum Schirmdoktor, obschon die Reparatur knapp 20 Euro überm Neupreis liegt.