Minimalismus : Nichts mehr zu verlieren
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Verzicht ist tatsächlich so hip wie nie zuvor
Seit zwanzig Jahren macht sie vor, dass das geht. Schwermer ist die unangefochtene Veteranin des Minimalismus, sie bekommt Post aus der ganzen Welt, es gibt einen Kinofilm über sie („Living without money“), und manche halten sie für eine „Legende“. Selbst mit 73 und krebskrank ist sie viel radikaler als all diese jungen Dinger, die in letzter Zeit mal ein Jahr lang auf irgendwas verzichtet und dann gleich ein Buch darüber geschrieben haben. Zum Beispiel die Wienerin Nunu Kaller, die ein Jahr lang eine „Shopping-Diät“ gemacht und das Buch „Ich kauf nix“ geschrieben hat. Oder der finnische Filmemacher Petri Luukkainen, der in dem Dokumentarfilm „My Stuff“ erzählt, wie er erst alle seine Sachen in ein Lager packt und dann nackt in einem leeren Appartment sitzt. Ein Jahr lang kauft er gar nichts, sondern holt sich nur jeden Tag eine Sache aus dem Lager zurück, um herauszufinden, was wirklich wichtig ist im Leben. Auch die amerikanische Autorin Judith Levine hat ein Jahr lang überhaupt kein Geld ausgegeben: kein Konsum, kein Theater, kein Abendessen und keine Bücher. Und die Leipziger Autorin Greta Taubert hat ein Jahr lang so gelebt, als wäre die Wirtschaft zusammengebrochen. Sie aß Blätter, züchtete Pilze, lebte in einer Waldhütte - und entdeckte die rettende Kraft der Gemeinschaft.
Verzicht ist tatsächlich so hip wie nie zuvor, und der Soziologe Harald Welzer weiß auch, warum: Die gesellschaftlichen Normen verändern sich, weil all unsere Grundbedürfnisse befriedigt sind. „In solchen Gesellschaften kann man sich um Gestaltungsfragen kümmern und damit um Nachhaltigkeit“, erklärt Welzer. Das werde auch in Unternehmen zur Kenntnis genommen oder in Fragen der Geldanlage - Nachhaltigkeitsfonds seien gefragt.
Die Gründe liegen bei einigen Menschen im Privaten
Für Oliver Stengel, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter im Forschungslabor Nachhaltige Entwicklung der Uni Bochum, haben auch einige Skandale dazu beigetragen, dass der Minimalismus jetzt so viele Anhänger findet. Berichte über Massentierhaltung, menschenunwürdige Produktionsbedingungen, Verschwendung von Lebensmitteln oder das bewusste Verkürzen der Haltbarkeit von Waren brächten die Verbraucher zum Nachdenken. Deswegen hinterfragten sie mehr, was sie kauften, und verzichteten auf manches - zum Beispiel auf Flugreisen oder tierische Produkte. Gerade in wohlhabenden Kreisen könne bewusstes, ökologisches Konsumieren sogar „Statuskonsum mit anderen Mitteln“ sein, meint Soziologe Welzer: „Diese Konsumform verbessert den Status in manchen Gruppen viel eher, als wenn man sich einen Porsche kaufen würde.“
Vielleicht liegen die wahren Gründe bei einigen Menschen aber auch im ganz Privaten. Heidemarie Schwermer etwa wurde im Krieg geboren, sie musste hungern, floh mit ihrer Familie als Kind aus Ostpreußen und sagt heute: „Vielleicht lebe ich auch wegen meiner Kindheit minimalistisch. Als wir in Deutschland ankamen, hatten wir nichts. Vielleicht bin ich heute deswegen so sehr gegen Verschwendung, für Teilen und gegen Armut.“ Und Nicol Froning erzählt, dass sie früher „depressiv und kränklich“ war; sie habe eine Essstörung gehabt, und ihr Vater sei gewalttätig gewesen. Sie hat den Kontakt zu ihm abgebrochen und auch sonst vieles in ihrem Leben geändert. Jetzt lebt sie minimalistisch, um sich wohl zu fühlen. Aber ihr Leben lang will sie das nicht machen: „Wenn ich wieder Möbel will, mach’ ich das. Vielleicht habe ich irgendwann eine Einbauküche und eine Couchgarnitur. Wenn es mich stresst, hör’ ich damit auf und mach’ was anderes. Aber momentan tut es mir gut.“